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Buchcover Meine Herren, dies ist keine Badeanstalt. Wie ein Mathematiker das 20. Jahrhundert veränderte

Georg von Wallwitz Meine Herren, dies ist keine Badeanstalt. Wie ein Mathematiker das 20. Jahrhundert veränderte

Ein Göttinger Genie
Georg von Wallwitz macht Leben, Werk und Wirkung des großen Mathematikers David Hilbert zugänglich – auch für Laien

Albert Einstein kennen alle. Kurt Gödel können, dank des Weltbestsellers „Gödel Escher Bach“, auch Nichtmathematiker einordnen. John von Neumann wurde als Mit-Erfinder der ersten elektronischen Rechenmaschinen bekannt. Aber welche weltverändernden Entdeckungen gehen auf David Hilbert zurück? Wie sieht die Hilbert-Kurve aus und was verspricht der Hilbertsche Formalismus? Über die Fachgrenzen hinaus ist der große Mathematiker, geboren 1862 in Königsberg, gestorben 1943 in Göttingen, nicht allzu berühmt. Und doch hat Hilbert „für die moderne Naturwissenschaft denselben Stellenwert wie Picasso für die Kunst“, schreibt Georg von Wallwitz, dessen Biographie sowohl den Mathematiker als auch die Mathematik selbst in den Blick nimmt – so, dass auch Laien erahnen können, welche Revolutionen in Göttingen ins Rollen kamen.
Hilbert zeichnete für einige der wichtigsten mathematischen Operationen verantwortlich, die das 20. Jahrhundert entscheidend prägten. Seine „axiomatische Methode“ ordnete die Welt der Mathematik von Grund auf neu; er hatte Göttingen zu einem Zentrum naturwissenschaftlicher Geistesgrößen gemacht, diskutierte mit Albert Einstein über dessen Relativitätstheorie und förderte die Mathematikerin Emmy Noether. Grund genug, diesen außergewöhnlichen Denker näher zu betrachten – und vor allem: eine Lanze zu brechen für die Faszinationskraft der Mathematik. 
Letzteres ist in gewisser Weise das Hauptanliegen des Bandes „Meine Herren, dies ist keine Badeanstalt“. Der Titel geht auf eine universitätspolitische Episode zurück: Als Hilbert 1915 versuchte, eine Stelle für Emmy Noether durchzusetzen, scheiterte er an seinen konservativen Kollegen, die einer Frau keine Professur überlassen wollten. Der ansonsten zurückhaltende Mathematiker habe, so von Wallwitz, mit seinem empörten Ausruf „Meine Herren, eine Fakultät ist doch keine Badeanstalt!“ darauf verwiesen, dass an der Universität – anders als in den Badeanstalten der Zeit – Geschlechtertrennung nicht angebracht sei; was zähle, sei die mathematische Leistung.
Das Netz aus brillanten Schülern und Kollegen, das Georg von Wallwitz – selbst Mathematiker, Philosoph, Fondmanager und Verfasser zweier Bücher über den Finanzkapitalismus – um Hilbert herum sichtbar macht, erweist sich als einer der Schwerpunkte dieses zugänglichen, stilistisch elegant-lockeren Buches; ein weiterer Schwerpunkt liegt auf den mathematischen (und physikalischen) Interessensgebieten Hilberts. Das hat auch damit zu tun, dass das Leben des Göttinger Großrechners von außen betrachtet eher ereignisarm war, wie von Wallwitz selbst erklärt.
Noch während der Studienzeit in der ostpreußischen Heimatstadt Königsberg freundete sich Hilbert mit den Mathematikern Adolf Hurwitz und Hermann Minkowski an; das Trio erörterte die neuesten wissenschaftlichen Entwicklungen auf Spaziergängen, deren Rhythmus aus Gehen und Disputieren Hilbert ein Leben lang beibehalten sollte. Nach Heirat, Familiengründung und dem Ruf nach Göttingen im Jahr 1895 machte sich Hilbert an die Ausarbeitung seiner Lebensthemen: neben der Invarianten- und Zahlentheorie vor allem die axiomatische Methode, mit der die Mathematik, erstmals seit Euklid, auf ein vollkommen sicheres, formalisiertes Fundament gestellt werden sollte.
Nachdem Einstein 1905 die Spezielle Relativitätstheorie veröffentlicht hatte, stürzten sich viele Mathematiker – so auch Hilbert – auf diesen revolutionären Wurf. „Im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts gehörte die Mathematik wenigstens zur Hälfte den Physikern, und Hilbert war viel zu sehr an den geistigen Moden seiner Zeit interessiert, um hier nicht seine eigene Suppe zu kochen“, schreibt von Wallwitz. „Göttingen wurde jetzt – und nach dem Ersten Weltkrieg noch viel mehr – zu einem riesigen mathematisch-physikalischen Caféhaus“. Es kamen: der junge Norbert Wiener, Max Born, John (damals noch Johann) von Neumann, Max Born, Niels Bohr, Werner Heisenberg und natürlich Einstein, der einen Unterstützer in Hilbert fand. Zusammen berechneten sie die noch fehlerhaften Feldgleichungen in Einsteins Theorie; dabei kam es sogar zu kurzen Konkurrenz-Szenarien, die aber mit einer Aussöhnung endeten.
„Hilbert wollte den ganz großen Wurf, wollte endlich der Physik ein axiomatisches Kleid umhängen“, er wollte, so von Wallwitz, eine „Theory of Everything“ schaffen. Dass es dann doch nicht zur Weltformel kam, lag auch am jungen Kurt Gödel, der Hilberts Theoriegebäude einen entscheidenden Stoß versetzte. Georg von Wallwitz gelingt es nicht nur, auch Laien einen Eindruck von den mathematischen Umwälzungen zu vermitteln, die zwischen Hilbert und Gödel stattfanden; mit einem fast schon physiognomischen Gespür für den „Typus Mathematiker“ zeichnet er höchst lebendige Porträts seiner Protagonisten.
Als diese blühende Wissenschaftslandschaft 1933 von den Nationalsozialisten zunichte gemacht wurde, war Hilbert bereits seit einigen Jahren emeritiert; vom Irrsinn der „Deutschen Mathematik“ war sein internationalistischer Formalismus natürlich Lichtjahre entfernt. Über diesen politischen Wendepunkt in Göttingen – und über das Verhalten der nicht emigrierten Wissenschaftler um und nach Hilbert – hätte man gern mehr gelesen. „Hilbert schaltete ab und es wurde still um ihn“, vermerkt von Wallwitz. Die Ehrenmitgliedschaft der „Deutschen Mathematiker-Vereinigung“ zum 80. Geburtstag im Jahr 1942 hatte Hilbert noch angenommen.
Als der Mathematiker 1943 stirbt, wird sein Tod in der internationalen Forschergemeinschaft zunächst wenig zur Kenntnis genommen – man war abgelenkt in diesem Kriegsjahr, wie von Wallwitz wiederum ausführlich berichtet. Vor allem gelingt es ihm, den weltweit prägenden Einfluss der Hilbertschule nachzuzeichnen und Neugier auf ein Fach zu wecken, das die Welt vielleicht wie kein zweites verändert hat. Als Beweis genügen die eigenen, tippenden Finger – und die Geräte unter ihnen.
 
Buchcover Meine Herren, dies ist keine Badeanstalt. Wie ein Mathematiker das 20. Jahrhundert veränderte

Von Jutta Person

Jutta Person, geboren 1971 in Südbaden, studierte Germanistik, Italienistik und Philosophie in Köln und Italien und promovierte mit einer Arbeit zur Geschichte der Physiognomik im 19. Jahrhundert. Die Journalistin und Kulturwissenschaftlerin lebt in Berlin und schreibt für die Süddeutsche Zeitung, Die Zeit und Philosophie Magazin. Von 2004 bis 2007 war sie Redakteurin bei Literaturen, seit 2011 betreut sie das Ressort Bücher beim Philosophie Magazin.

(Stand: 2020)