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Buchcover Ich und die Anderen. Wie die neue Pluralisierung uns alle verändert

Isolde Charim Ich und die Anderen. Wie die neue Pluralisierung uns alle verändert

Willkommen in der Begegnungszone

Eine Welt sei versunken und eine andere Welt zur Normalität geworden, und wenn Isolde Charim für diesen Übergang auch kein präzises Datum anzugeben vermag, so staunt die Publizistin doch darüber, dass zum Miterleben dieses Zeitenwechsels immerhin eine einzige Lebensspanne ausreicht, zum Beispiel ihre eigene. „Ich und die Anderen. Wie die neue Pluralisierung uns alle verändert“ heißt der neue Essay der in Wien und Berlin lebenden Autorin, deren Texte man sonst vor allem in der „taz“ und der „Wiener Zeitung“ lesen kann. Ihr aktuelles Thema, die Pluralisierung, erscheint Charim als Ergebnis einer „schleichenden Entwicklung, die man erst bemerkte, nachdem sie sich vollzogen hatte.“ Erst in der biografischen Rückblende werde deutlich, wie fundamental sich das Zusammenleben verändert habe. Die ungarische Philosophin Ágnes Heller zum Beispiel habe einmal erzählt, dass sie erst im Alter von zwanzig Jahren zum ersten Mal einen Schwarzen gesehen habe. Auch, aber nicht nur ein Effekt des Mauerfalls: Ihr selbst, Isolde Charim, sei es in Wien ganz ähnlich gegangen.
 
Dass Pluralität heute unübersehbar als gelebtes Nebeneinander verschiedener Kulturen und Religionen präsent sei, gilt Charim dennoch gerade nicht als Beleg dafür, dass auch eine homogene Kultur denk- oder sogar wünschenswert sein könne: diese sei nämlich seit jeher nichts weiter gewesen als eine Konstruktion. Die Autorin kritisiert das Identitäre mit Sigmund Freud. Dessen Formel vom Ich, das nicht Herr im eigenen Haus ist, demaskiere die Vorstellung, dass ein Ich – und weitergehend eine Gemeinschaft – mit sich selbst identisch sein könne, als Illusion. Trotzdem sei der Nationalismus lange Zeit der durchaus erfolgreiche Versuch gewesen, diese Illusion im großen Maßstab aufrechtzuerhalten. Aber heute? Wo der Nationalismus im allgegenwärtigen rechten Populismus oder in der Brexit-Bewegung wiederauferstehe, könne die Berufung auf die Nation nie eine einende, sondern stets nur spaltende Wirkung erzeugen.
 
Man könnte einwenden, die Feier des Pluralen, die die individuelle Selbstbestimmung des Individuums entlang eines von gegenseitiger Toleranz geschützten Identifikationsspektrums im Sinn hat, setze noch immer bestimmte Milieus und den von jeher durch eine besondere Offenheit geprägten städtischen Raum voraus. Charim hält dem die Wendung vom „global village“ entgegen sowie ihre optimistisch gestimmte Analyse, dass „selbst der ländliche Raum heute urbanisiert ist – in dem Sinne, dass es auch im Dorf, dem Prototypen homogener Lebensweise, Pluralisierung gibt. In jedem deutschen oder österreichischen Kaff findet man heute eine Dönerbude.“
 
Folgt man der Autorin, dann ist die nun ubiquitäre pluralisierte Gesellschaft eine „Begegnungszone“, die gerade davon profitiert, dass sie kein Versprechen auf Gemeinsamkeit mehr birgt. Jedem, der mit diesem Versprechen, mit Re-Homogenisierung und Harmonie, auf der politischen Bühne wirbt – und hier meint die Autorin insbesondere die überall erstarkten Rechten – müsse daher nicht bloß mit Misstrauen, sondern mit Abwehr entgegengetreten werden.
Buchcover Ich und die Anderen. Wie die neue Pluralisierung uns alle verändert

Von Ronald Düker

​Ronald Düker ist Kulturwissenschaftler und Journalist und schreibt für DIE ZEIT sowie verschiedene Magazine. Er lebt in Berlin.