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Im Reich der Schwämme

Kein Herz. Kein Magen. Keine Knochen. Keine Muskeln. Kein Gehirn. Kann nicht riechen, kann nicht hören, sehen, tasten. Aber es frisst, schöpft Energie aus seiner Nahrung. Ein Tier. Eins, über das noch nie ein Kindersachbuch geschrieben wurde. Stammesname: Porifera.
 
Ein persönliches Geständnis des Rezensenten vorneweg: Ich habe mir heute Vormittag das erste Mal in meinem Leben einen Badeschwamm gekauft, genau genommen einen „Qualitäts-Naturschwamm aus dem Mittelmeer“. So steht es auf der Verpackung. Die letzten Male, als ich einem Naturschwamm persönlich begegnete, saß ich in der fichtennadelschaumbadgekrönten Badewanne meiner Kindheit. Mutter schrubbte mir mit einem Schwamm, den sie „echt“ nannte, den Rücken ab und ich spielte danach mit dem nassen Ding „Unterwassertank“. Dabei staunte ich darüber, wie unendlich viel Wasser mein Schwamm aufsaugen konnte und stellte mir vor, dass man damit glatt einen Flächenbrand in der Serengeti hätte löschen können.
 
Jetzt liegt der „nachhaltig geerntete Naturschwamm“, Stammesname: Porifera, völlig von Muscheln und Sand befreit, vor mir auf dem Schreibtisch und inspiriert mich dazu, von einem außergewöhnlichen Buch über außergewöhnliche Lebewesen zu berichten, denen wir höchstens in Badewannen begegnen, in TV-Unterwasserreportagen oder in abgedunkelten Aquariensälen zoologischer Gärten. Und nun auch in diesem Buch von Ninon Ammann: „Wundertier Schwamm“, das uns auf eigenartige Weise (siehe Schwammkauf) berührt und uns eine nahezu vergessene Welt vor Augen führt. Erfreulicherweise nicht so, wie es viele Sachbücher über die Natur tun: schier überbordend von Informationen, mit effektiver Seitennutzung bis zur Blatt-Kante und einer Dramaturgie der Wissensvermittlung, die fälschlicherweise davon ausgeht: je mehr, desto besser. Wie es anders geht, das zeigt die Schweizer Autorin und Illustratorin in einer ausbalancierten Mischung von erzählendem Text, informativen Unterzeilen zu kleineren und größeren farbigen Schaubildern (keine Fotografien!) und Szenen vom Meeresgrund, die sich über ganze Seiten ziehen.
 
Mit staunenden Augen tauchen wir ein in diese geheimnisvolle Unterwasserwelt, die in Sachbüchern sonst immer dominiert wird von spektakulären Fischen, wenn nicht sogar von Seeungeheuern. Es gibt noch eine andere Welt dort unten, in Meeren, aber auch in Seen und Flüssen. Wer von uns hat denn schon groß darüber nachgedacht, dass die 8.000 bekannten Arten von Schwämmen zum Tierreich und nicht zum Pflanzenreich gehören? Wer von uns weiß, dass die Schwämme zu den ältesten Lebewesen auf unserem Planeten zählen, die längst da waren, bevor die Saurier auf die Bühne traten oder gar der Mensch? Vor 750 Millionen Jahren!
 
Wir kommen aus dem Staunen nicht mehr heraus, wenn wir Seite für Seite tiefer ins Reich der Schwämme vordringen, wie einst Jacques-Yves Cousteau. Diese Vielfalt von Formen und Farben! Und die immense Bedeutung für eine gesunde Ökologie der Meere: 3.000 Liter Wasser filtert allein ein fußballgroßer Schwamm täglich. Wir könnten wirklich ins Schwärmen geraten über das Wunderwerk Natur, über das Wunderwerk Schwamm – so wie es in diesem Buch präsentiert wird. Und wieder einmal erkennen wir, was geschieht, wenn sich Lebensräume, wie die Meere, extrem verändern, durch Erwärmung, durch zu wenig Sauerstoff, durch Verschmutzung.
 
Bevor sich nach dem Kauf eines echten Badeschwamms ein Gewissenswurm regt: Naturschwämme werden seit zweitausend Jahren vom Menschen genutzt und heute in Aquafarmen gezüchtet. Was also vor mir liegt und mich in seiner tausendporigen Eleganz fasziniert, ist das Skelett eines Hornkieselschwamms (Demospongiae) aus weichem Spongin. Ab sofort sehe ich selbst diesen bescheidenen Nachfahren eines der ersten vielzelligen Lebewesen auf unserem blauen Planeten mit anderen Augen. Und mit Respekt. Versprochen. 
Buchcover Wundertier Schwamm

Von Siggi Seuß

​Siggi Seuß, freier Journalist, Hörfunkautor und Übersetzer, schreibt seit vielen Jahren Kinder- und Jugendbuchkritiken.