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Buchcover Der Mann schläft

Sibylle Berg Der Mann schläft

Sibylle Berg
Der Mann schläft

Dieses Buch wurde vorgestellt im Rahmen des Schwerpunkts Spanisch: Argentinien (2009 - 2011).

Buchbesprechung

Sibylle Berg, in Weimar geboren und in Zürich wahlbeheimatet, ist bekannt als Kassandra des Klamaukzeitalters, als Expertin des Ennui, als einzige unbeirrbare Propagandistin des Vanitas-Gedankens in der deutschsprachigen Literaturszene. Ende guthieß ihre Generalabrechnung mit dem Katastrophengebiet Deutschland, die schon vier Jahre vor der Finanzkrise zu einem apokalyptischen Resultat gelangte. Immerhin gab es noch den utopischen Fluchtweg nach Finnland, der den Romantitel rechtfertigte.

Das nächste Berg-Werk, Die Fahrt, ließ diverse Figuren über einen kaputten Globus irren, dessen menschengemachte Elendszonen mit unnachahmlicher Hasslust ausgemalt wurden. Nie aber hat die Autorin verleugnet, dass ihre schwarzgalligen Diagnosen des Niedergangs und der Vergeblichkeit nur die Kehrseite einer tiefen Sehnsucht nach dem Schönen und Guten, nach Freundlichkeit und Humanität sind.

In ihrem jüngsten Epos Der Mann schläft kleidet sie diese Sehnsucht in sanft melancholische, moderat maliziöse Bilder. Die Heldin, eine unscheinbare Frau mittleren Alters, die ihren Lebensunterhalt mit dem Verfassen von Gebrauchsanweisungen verdient, erkennt im Rückblick, dass sie etwas Kostbares gefunden und wieder verloren hat – eine besondere, ja sonderbare Art von Liebe. Nämlich nicht das, "was uns französische Filme zeigten, Begierde, nächtelange Diskussionen über Gefühle, um die Leidenschaft wieder zu beleben, Geschlechtsverkehr unter regennassen Laternen, viel, viel Leiden und am Ende schweigendes Sitzen in einer französischen Küche". Nicht das also ist hier abhanden gekommen, sondern eine Liebe, "die ruhig und still verlief, die freundschaftlich war und eine gewisse Niedlichkeit ausstrahlte".

Alles beginnt in einer unbestimmt schweizerischen Gegend, wo die Welt noch nicht kaputt und verfinstert ist, sondern nur dunkelgrau, klamm und verwaschen. Jedenfalls war sie es, wie die erste Kapitelüberschrift verrät, "Damals im Winter. Vor vier Monaten". Und doch war sie für die Ich-Erzählerin in Ordnung, die Welt, denn: "Jeden Morgen stand ich vor der Tür und freute mich, dass ich die Nacht überlebt hatte, dass alle Häuser sich noch am Ort befanden und der Mann im Bett lag."

Das kleine, genügsame Glück aber war nicht von Dauer. Deshalb geht es nun hin und her auf der fiktionalen Zeitachse zwischen "Damals. Vor vier Jahren" und den wechselnden Tageszeiten eines "Heute", bis das "Jetzt" erreicht ist, das die Erzählerin am Bootssteg einer chinesischen Ferieninsel zeigt, mit einem Daseinsgefühl wie "ein Klumpen organischen Gewebes", einen giftig orangefarbenen Sonnenuntergang vor Augen und das Hirn gebadet in französischem Weißwein, der ihr hilft, "die unglaubliche Langeweile zu vergessen, die die Anstrengung, sein Leben zu gestalten, mit sich bringt".

Die Ursache des Elends: "Der Mann" ist nach gut dreieinhalb gemeinsamen Jahren plötzlich verschwunden. Während eines Urlaubs auf besagter Insel ist er vom Zeitungholen nicht zurückgekehrt. Die Frau, verzweifelt, versucht das Geschehen zu ergründen. Sie beschreibt den Mann, schildert die Eigenart der Beziehung. Und da sie ein Geschöpf der Frau Berg ist, beobachtet sie außerdem die Welt und bilanziert deren Zustand, berichtet von Begegnungen mit seltsamen und traurigen Zeitgenossen, mit Selbstmördern und Gestörten, in Europa und in China. Für alle gilt: "Die Menschen hatten ihre niedlichen Momente, doch das täuschte nicht darüber hinweg, dass die meisten von überwältigender Einfalt und Niedertracht waren."

Eine Ausnahme war "der Mann". Er war nicht schön, nicht reich, nicht besonders charmant und kein großer Redner, aber er war der Frau mit wunderbarem Gleichmut beständig zugetan, und er machte beim Schlafen kleine Geräusche, "die schöner waren als alle, die ich kannte, weil sie einer machte, den man mochte, und weil er doch leben musste, um Geräusche zu machen, die mir ein Zelt bauten in der Nacht".

Sie jedoch, die Frau, hat gegen das Gefühl der Geborgenheit aufbegehrt, hat schon in den ersten Wochen die Nachttischlampe nach dem Mann geworfen und ihn in den letzten Stunden vor seinem Verschwinden mit schlechter Laune traktiert. Dazwischen aber, bevor sie auf die "unselige Idee" der weiten Reise kam, war ihre Zuneigung "wie ein freundlicher Fluss, der ab und zu über die Ufer trat": Die Schilderung jener Zeit ist voll poetischer und skurriler Berg-Apercus, die das abgegriffene Thema "Liebe" neu und schräg beleuchten.

Ob das Ende gut ist oder schlecht, darf der Leser selbst entscheiden. Als nur noch der Weißwein die Verlassene davon abhält, sich ins südchinesische Meer zu stürzen, hat sie eine zarte Halluzination, die als Hoffnungsschimmer taugt. Auf jeden Fall ist dies der "niedlichste" Roman, den Sibylle Berg bisher geschrieben hat - und doch bestätigt er aufs Schönste und Schärfste ihren Ruf als letzte freie Radikale der deutschen Gegenwartsliteratur.
Buchcover Der Mann schläft

Von Kristina Maidt-Zinke

​Kristina Maidt-Zinke ist Literatur- und Musikkritikerin der Süddeutschen Zeitung und rezensiert für Die Zeit.