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Buchcover Warum die Menschen sesshaft wurden. Das größte Rätsel unserer Geschichte

Josef H. Reichholf Warum die Menschen sesshaft wurden. Das größte Rätsel unserer Geschichte

Josef H. Reichholf
Warum die Menschen sesshaft wurden. Das größte Rätsel unserer Geschichte

Dieses Buch wurde vorgestellt im Rahmen des Schwerpunkts Portugiesisch: Brasilien (2007 - 2008).

Buchbesprechung

Warum wurde der Mensch vom Jäger zum Bauern? Vor ca.12.000 Jahren ereignete sich etwas, was noch immer unsere Welt bestimmt. Nach Jahrtausenden des Nomadentums wurden aus Jägern plötzlich Siedler und Ackerbauern – bekannt ist dieses Ereignis als „Neolithische Revolution“, als Übergang von der Steinzeit in die historische Zeit. Aber warum und wie dieser stattfand, darüber wird viel spekuliert. In seinem neuen Buch „Warum die Menschen sesshaft wurden“ beschäftigt sich auch der renommierte Evolutionsbiologe J.H. Reichholf mit dieser Frage. Und seine Antwort fällt überraschend aus: Nicht Not und Hunger standen am Anfang der Sesshaftigkeit, sondern ausgelassene Feste und die Entdeckung des Alkohols.

Nach einem alten Sprichwort treibt die Not den Menschen zu neuen Erfindungen. Auf dieser Vorstellung basieren auch viele Theorien über die menschliche Entwicklung: So wurde die evolutionäre Entstehung des Homo Sapiens zurückgeführt auf das Schrumpfen der afrikanischen Wälder, was diesen zum aufrechten Gang in der Grassteppe zwang. Ähnliche Erklärungen lagen bisher auch den meisten Spekulationen über die „Neolithische Revolution“ zugrunde: der Mangel an Wild habe am Ende der letzten Eiszeit die Jäger und Sammlerkulturen gezwungen, sich niederzulassen. Getreide wurde zum Ersatz für Fleisch.

Reichholf argumentiert schlüssig gegen diese Thesen: Der Überfluss, nicht der Mangel habe den Menschen zum erfinderischen Kulturwesen gemacht und sei Auslöser für den Wandel gewesen, sowohl bei der Entstehung des Menschen als auch beim Übergang vom Jägertum zum Ackerbau.

Der Autor zeigt, dass der Weg unserer Vorfahren in die offene Savanne auf evolutionären Vorteilen beruhte und nicht durch das Verschwinden der Wälder ausgelöst wurde. Denn erst der andauernde Fortpflanzungserfolg machte aus dem pflanzenfressenden Primaten das Raubtier Homo Sapiens. Kadaver und später erlegte Großtiere brachten Fleisch, welches ungleich mehr Proteine enthielt als Früchte und Pflanzenkost. Dieser Proteinüberschuss verschaffte der werdenden Art Mensch zwei entscheidende Selektionsvorteile: er ermöglichte eine optimale Versorgung der Muttertiere und damit eine steigende Kinderzahl – gleichzeitig konnte der Nachwuchs besser ernährt werden. Die Folge war ein enormer Anstieg der Nachkommenzahl.

Der evolutionäre Vorteil der Fleischnahrung hat den Menschen erst möglich gemacht. Er jedoch brauchte Jahrtausende, um zu dem zu werden, was wir heute sind: ein nackter, aber extrem ausdauernder Läufer, der über das beste Kühlsystem aller Säugetiere verfügt, das Schwitzen. Dies ermöglichte es dem Menschen, im Gegensatz zu anderen Raubtieren, dem Fleisch hinterher zu ziehen und dauerhaft vom Überschuss der Großtierherden zu profitieren.

Ähnlich argumentiert Reichholf auch hinsichtlich der Kultur des Menschen. Denn obwohl dieser sich durch seine Kulturfähigkeit sozusagen selbst aus der natürlichen Evolution herausgenommen habe, herrsche doch auch bei kulturellen Entwicklungen „das Fließende über das abgrenzbar Beständige“. Dies gelte auch für die „Neolithische Revolution“. Sie sei streng genommen keine Revolution, sondern eine graduelle Umstellung, an deren Ende die Durchsetzung des Ackerbaus stand. Darin unterscheidet sich Reichholf noch nicht vom „Mainstream“ der Forschung, aber zur Begründung seiner These setzt er sich mit den Standardinterpretationen auseinander und zeigt die Lücken der „Mangelthese“ auf. Diese besagt ja, der Mensch habe sich aufgrund des Wildmangels auf Getreide umstellen müssen. Der „Fruchtbare Halbmond“, das Entstehungsgebiet des Ackerbaus, besaß jedoch einen hohen Pflanzenreichtum, der durchaus Wild ernähren konnte. Warum sollte es also gerade daran gemangelt haben? Noch überzeugender ist allerdings die Rechnung, die Reichholf für die Energiebilanz aufmacht: Drei Kilogramm Getreide pro Tag und Person wären notwendig gewesen, um die proteinreiche Fleischkost auszugleichen. Im Jahr bedeutete dies für eine Familie einen Bedarf von ca. 5 Tonnen Getreide. Noch nicht eingerechnet sind dabei der Verlust durch Schädlinge sowie die Tatsache, dass die Urformen des Getreides viel weniger ertragreich waren als die heutigen Zuchtformen. Schon diese Rechnung entlarvt die simple Mangelthese.

Warum aber hat der Mensch überhaupt angefangen, Pflanzen anzubauen? Reichholfs Antwort ist so überraschend wie überzeugend: Wegen des Alkohols. Die Menge des Wildgetreides habe zunächst zwar nicht ausgereicht, das Fleisch zu ersetzen, aber man konnte nun durch Gärung Alkohol gewinnen. Dieser erfüllte mehrere Funktionen: Als Rauschmittel bei Festen stärkte er die Gemeinschaft, gleichzeitig spalteten die beim Gärungsprozess freiwerdenden Enzyme die schwerverdaulichen Pflanzenanteile und setzten so zusätzliche Nährstoffe frei. Das erste nachweisbare kultivierte Getreide ist eben auch nicht der Weizen, sondern die für Bier heute noch verwendete Gerste. Erst später, so Reichholf, sei aus dem Bierbrei der Sauerteig zum Brotbacken geworden. Bezeichnenderweise ist die Alkoholverträglichkeit auch heute noch bei den Kulturen am höchsten, deren Hauptnahrungsmittel Brot ist. Reichholf bringt noch viele weitere überraschende Indizien für seine These, er bezieht dabei auch andere Rauschmittel mit ein und untersucht deren Einfluss auf die Entdeckung von Kulturpflanzen wie Mais, Reis oder der Kartoffel.

„Warum die Menschen sesshaft wurden“ ist eine anschauliche Reise durch die Frühgeschichte der Menschheit: von der Herkunft unserer Gattung über Eiszeitjäger und Haustiere bis zum Zusammenhang zwischen Sprache, Drogen und Kultur. Reichholf lässt nichts aus, sogar das Einhorn findet einen Platz in seiner Erzählung. Wenngleich nicht alles sofort nachvollziehbar erscheint, ist seine Argumentation letztlich doch überzeugend, denn Reichholf stützt seine These auf neuste Erkenntnisse aus der Biologie, Anthropologie, Archäologie, Molukalergenetik und Linguistik. Der Autor argumentiert fundiert, verständlich und fesselnd. Es gelingt ihm, selbst komplexe evolutionsbiologische Details verständlich zu machen. Dieses Buch besitzt die seltene Qualität, bahnbrechende wissenschaftliche Erkenntnisse unterhaltsam zu vermitteln. Reichholfs Blick in die Vergangenheit unserer Spezies enthält spannende Denkanstösse, sowohl zur Frage woher der Mensch kommt als auch wohin unsere Herkunft uns noch führen kann.

Von Andrea Müller