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Warum wir sind, wie wir sind

Vor rund zwei Millionen Jahren begann eine Epoche großer klimatischer Schwankungen: Mal tummelten sich Nilpferde an den Ufern der Themse, mal zottelige Wollnashörner auf dem gefrorenen Boden Mitteleuropas. Und die Vorfahren der modernen Menschen mussten zusehen, wie sie damit zurechtkamen. Sie kamen zurecht: Ihre Gehirne wurden größer, der Kehlkopf verlagerte sich nach unten und ermöglichte das Sprechen, welches sie wiederum besser zusammenarbeiten ließ. Die Menschenbabys wurden immer früher geboren, die Mütter, längst auf zwei Beinen unterwegs, konnten sie bei sich tragen, wenn es wieder einmal weiterzuziehen galt, mal nach Norden, mal nach Süden, immer dorthin, wo das Leben leichter erschien. So hat uns wahrscheinlich der Klimawandel klug gemacht.

In seinem neuen Buch erzählt der Biologe, streitbare Naturschützer und für seine verständlichen Wissenschaftsbücher ausgezeichnete Autor Josef Reichholf nicht einfach die Evolutionsgeschichte nach, von der Ursuppe zum Menschen, er setzt beim Menschen an und zeigt, wie die Kenntnis der Evolution uns helfen kann zu verstehen, warum wir sind, wie wir sind.

Evolution, so Reichholf, steht für Vielfalt. Sie erreicht keinen stabilen und schon gar keinen optimalen Zustand. Sie kennt keine Zwecke, nur Veränderungen, die ihren Trägern entweder nützen oder schaden. So wie schwarze Haut bei starker Sonneneinstrahlung von Vorteil ist, weiße dagegen dort, wo der Mensch sich wegen der Kälte bekleiden muss und die wenigen verbleibenden nackten Stellen genug Sonnenlicht abbekommen müssen, damit in der Haut das lebenswichtige Vitamin D entstehen kann.

An der Naturgeschichte des Menschen erklärt Reichholf, wie genetische Stammbäume erstellt werden und was sie über uns, unsere Vorfahren und ihre Ausbreitung über die Erde verraten. Sie verraten nicht nur, dass die Menschen aus Afrika stammen, sondern auch, dass die Wanderungsbewegungen so komplex waren, dass die Rede von menschlichen Rassen keinen Sinn ergibt. Die genetische Vielfalt innerhalb einer Gruppe von Menschen ist größer, als die Unterschiede zwischen den so gerne als Einheit betrachteten „Kulturen" oder „Völkern".

An der Naturgeschichte des ältesten Haustiers des Menschen, dem Hund, erklärt Reichholf die Mechanismen der Evolution, etwa, dass Mutationen in Regulatorgenen schnell große Auswirkungen haben können. Auch hier lässt er es sich nicht nehmen, die Evolutionstheorie auf aktuelle Problem zu beziehen: Die vom Menschen betriebene Züchtung extremer und in Freiheit nicht lebensfähiger Hunderassen sollte uns zu denken geben, wenn wir erwägen, in unsere eigene Evolution einzugreifen: Sie zeige, wie schwer es ist, nachhaltig in die Zukunft zu planen.

Natürlich fehlen in Reichholfs Evolutionsgeschichte auch die Klassiker nicht, nicht der Stammbaum des Lebens, der alle Lebensformen, Pflanzen wie Tiere und Menschen miteinander verbindet, nicht die Dinosaurier und ihr Aussterben durch einen Kometeneinschlag, nicht die Vielfalt der Vogelschnäbel, die zeigt, wie sich die Arten auf eine Nahrung oder eine Lebensweise spezialisieren.

In all der Vielfalt findet Reichholf einen roten Faden: Evolution bedeute, von der Umwelt unabhängiger zu werden. Dieser Prozess begann, als sich vor etwa dreieinhalb Milliarden Jahren die ersten Zellen von ihrer Umgebung abgrenzten und streng kontrollierten, was hinein darf und was nicht. Heute sitzt ein komplexes Gehirn wohlverwahrt in einem stabilen Schädel und mit seiner Hilfe haben sich die Menschen stärker von der Natur emanzipiert als jede andere Art. Übertreiben sie es vielleicht?

Im dritten und letzten Teil des Buches ist der Autor wieder beim Menschen und fragt nach seiner Zukunft: Wir sind das mit Abstand kriegerischste Lebewesen der Erde, konstatiert Reichholf, und eine doppelseitige Illustration zeigt den „Fortschritt" der Waffentechnik vom Faustkeil zum Maschinengewehr. Aggression und die Bereitschaft, die eigene Gruppe zu verteidigen, gegen Tier und Mensch, haben den Menschen in der Evolutionsgeschichte lange genützt. Jetzt erschweren sie unser Zusammenleben. Können wir beides sein, Menschen und menschlich, fragt Reichholf. Er setzt seine Hoffnung auf die verbindende Macht der digitalen Medien: Die Computer-Generation habe als erste Generation überhaupt die Mittel und die Sprache, die Menschen zu einer Menschheit zu vereinen.

Reichholf hat, wieder einmal, ein hervorragend lesbares Buch geschrieben. Zahlreiche Zeichnungen des Illustrators Johann Brandstetter unterstützen die Erklärungen, wichtige Schlagworte sind farblich abgesetzt, Kästen am Rand liefern Zusammenfassungen oder weitere Informationen. Vor allem aber zeigt die „Kurze Geschichte von Mensch und Natur", dass Evolution keine trockene Theorie ist, sondern uns hilft, uns selbst und einige unserer drängendsten Probleme zu verstehen.
Buchcover Evolution. Eine kurze Geschichte von Mensch und Natur

Von Manuela Lenzen

Manuela Lenzen ist freie Wissenschaftsjournalistin und schreibt vor allem über die Themen Evolution, Kognition und Künstliche Intelligenz.