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Revolte oder Notbremse. Thomas Steinfeld biographiert die Gedanken des Karl Marx

Je hermetischer, je „alternativloser“ der zeitgenössische Kapitalismus bald dreißig Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion erscheint, desto mehr regeneriert sich das Interesse an Theorien, die das euphemistisch zur „freien Marktwirtschaft“ umgetaufte Wirtschafts- und Gesellschaftssystem in Frage stellen. Damit rückt vor allem der deutsche Philosoph Karl Marx wieder in den Fokus des Interesses, auf den sich – zu Recht oder zu Unrecht – die revolutionäre, kommunistische, planwirtschaftliche Hälfte der Welt im 20. Jahrhundert berief. Zahlreiche Monographien sind zum Thema Karl Marx in den vergangenen Jahren erschienen.

In Stil und Inhalt sticht die Gedankenbiographie „Herr der Gespenster“ des Literaturwissenschaftlers und Redakteurs der „Süddeutschen Zeitung“ Thomas Steinfeld aus den mannigfaltigen Veröffentlichungen heraus. Als Quereinsteiger in die Materie steht Steinfeld unter argwöhnischer Beobachtung der professionellen Ökonomen – zu Unrecht, denn seine Analysen und Argumentationen sind luzide und fachlich wasserdicht. Aber der Autor will nicht etwa vor allem eine Aktualisierung der Marx'schen Voraussagen liefern wie etwa Thomas Piketty in „Das Kapital im 21. Jahrhundert“, und schon gar nicht will Steinfeld ein Plädoyer für eine Revolte oder eine Rezeptur für eine Reform des Wirtschaftssystems liefern.

Mit Empfehlungen, die herkömmlichen Marxisten so leicht über die Zunge gehen, hält sich Steinfeld zurück oder verzichtet ganz auf sie. „Wenn das Wichtigste begriffen ist, kann man sich ja überlegen, was danach zu tun ist“, lautet der letzte Satz der Gedankenbiographie. Aus dieser Andeutung wird für den ideologischen Antimarxisten eine gewisse Drohung herauszuhören sein – zunächst  ungerechtfertigt, denn Steinfeld kommt es zuallererst auf das Verständnis des publizistischen Phänomens Karl Marx an, erklärtermaßen gegen all das Halbwissen, das den Autor bereits ins den revolutionsseligen 1970er Jahren nervte. Allenfalls das „Kommunistische Manifest“ und vielleicht einige Kapitel des „Kapitals“ hatten die Studenten gelesen, die in den Seminaren lieber die Revolution proben wollten als die Klassiker zu studieren. Aber das reicht nicht, damals ebenso wenig wie heute, wie Steinfeld nicht müde wird, anzumerken. Sein Langessay kreist mit weitem Horizont, aber mitunter auch minutiös um die philosophischen, die ökonomischen und die zeitgeschichtlichen Implikationen von Marx' Schaffensprozess – und oft hat der Leser den Eindruck, dass Steinfeld noch faszinierter als an der ökonomisch-philosophischen Theoriebildung an dem Werdegang eines genialen Journalisten und Literaten interessiert ist, der Marx zu Lebzeiten letztlich immer blieb.

Der Literaturwissenschaftler Thomas Steinfeld analysiert subtil die vielschichtige Sprache des Philosophen. Das ist ein unschätzbarer Vorteil, denn Marx ist immer auch Literat neben dem Philosophen und Ökonomen, und seine Metaphern müssen erstens korrekt interpretiert werden, was Steinfeld glanzvoll und mit viel Geist gelingt, und zweitens lassen sie Rückschlüsse auf die Epochen in Marx Denken und Schreiben zu. Aber auch die konkrete Schreib- und Lesesituation in der Bibliothek des British Museum in London ist Steinfeld ebenso aufschlussreiche wie unterhaltsame Passagen wert. Genau untersucht und deutet er das unermüdliche Exzerpieren von Literatur und Journalistik und Marx' Technik, aus solchen Exzerpten Aufsätze und Bücher zu komponieren.

Immer wieder kommt Steinfeld auf die gegenwärtige Entwicklung des Kapitalismus zu sprechen – geschickt verquickt mit genauer Lektüre der Originaltexte – und analysiert die Korrespondenzen zu den Marx'schen Diagnosen und Prognosen. Für Europa und die anderen wohlhabenden Gebiete hat sich die Lage grundlegend geändert: „Es genügt meistens, die Herstellungswege von Konsumartikeln bis zu ihrem Ausgangspunkt zurückzuverfolgen, um dem ‚dunklen Gesicht‘ des globalen Reichtums zu begegnen.“ Freilich fühlen sich die Glücklichen, die in den Wohlstandssphären einen Arbeitsplatz haben, nicht mehr unbedingt ausgebeutet: „Ein Angestellter mag irgendwann auf den Gedanken kommen, an seiner Arbeit verdiene sein Arbeitgeber womöglich mehr als er selber. Er wird dann den Ehrgeiz darauf richten, unter den gegebenen Bedingungen seinen Verdienst zu steigern. Der Ausbeutung entkommt er damit freilich nicht. Sie wird, für viele Menschen wenigstens, verdeckt durch die Freiheit der Wahl.“

Marx' These, dass der Kapitalismus dereinst an seinen verbrauchten Ressourcen scheitern werde, wird durch die heutige ökologische Situation nur virulenter und ist auch Steinfeld evident. „Was tun?“ bleibt die Frage am Ende des Buches und die Hoffnung, dass nicht wiederum etwas Totalitäres drohe, dass kluge Reformen riskante Revolutionen zuletzt noch verhindern mögen.
 

 
Buchcover Herr der Gespenster

Von Marius Meller

​Marius Meller hat Germanistik, Philosophie und Musikwissenschaft studiert und war Redakteur für Literatur bei der Frankfurter Rundschau und beim Berliner Tagesspiegel. Heute lebt er als Autor in Berlin und arbeitet als freier Literaturkritiker für Deutschlandradio und Deutschlandfunk.