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Ein Comic-Held mischt sich in die deutsche Zeitgeschichte

Spirou – wer kennt den kleinen Comic-Helden nicht? Seit mehr als sieben Jahrzehnten erleben der ewige Hotelpage in der roten Uniform, sein bester Freund, der rasende Reporter Fantasio, das putzige Eichhörnchen Pips und der geniale Wissenschaftler Graf von Rummelsdorf die verrücktesten Abenteuer rund um den Globus.

Als erster deutscher Comic-Künstler wurde nun Flix in den erlauchten Kreis der Zeichner/Autoren der traditionsreichen frankobelgischen Comicserie aufgenommen. Zu Recht. Mit einer turbulenten Geschichte, die sich von den Ereignissen kurz vor dem Fall der Berliner Mauer im November 1989 inspirieren ließ.

Schon auf den ersten Blick fällt die witzig-satirische und experimentfreudige Spielart des Zeichenstils der Ligne Claire auf, mit der der Künstler Atmosphäre schafft. Die Bilder im spannend getakteten Perspektivwechsel erzeugen Szene für Szene eine Dynamik der Handlung, die einem James-Bond-Film alle Ehre machen würde.

Graf von Rummelsdorf erhält im Sommer 1989 eine unerwartete Einladung zum Ersten Internationalen Mykologenkongress in Ost-Berlin, der Hauptstadt der DDR. Da Spirous und Fantasios Freund natürlich auch ein anerkannter Pilzforscher ist, sagt er zu – voller Hoffnung, etwas über den „kleinköpfigen Portabriris“ zu erfahren, einen extrem seltenen Pilz mit ungeheurer Wirkung: Seine Sporen verformen mir nichts dir nichts Metall, sein Serum könnte sogar – wie sich im Lauf der Geschichte herausstellt – eine ominöse „Wunderwaffe des Sozialismus“ in Gang setzen.

Unter geheimnisvollen Umständen verschwindet der Professor Richtung Ost-Berlin. Spirou, Fantasio und Pips verfolgen seine Spuren. Ihr Misstrauen ist geweckt. Via West-Berlin machen sie sich auf den Weg nach Ost-Berlin und sind erstaunt, wie friedlich und bunt sich das Leben im Arbeiter- und Bauernstaat präsentiert. Sie ahnen allerdings nicht, dass sie sich von Beginn an im Visier der Staatssicherheit befinden. Was sie dann im Stil eines nervenaufreibenden Agententhrillers mit vielen Slapstickelementen erleben, lässt die Haare ehrenwerter Historiker erst einmal zu Berge stehen: Irrsinnige Verfolgungsjagden, Kugelhagel, Festnahmen, Verhöre, Zwischenstationen im Luxushotel, in einer Gefängniszelle und in einem unterirdischen militärischen Versuchslabor, Rettung durch eine Herde Orang-Utans und schließlich die Bekanntschaft mit einer zu allem entschlossenen jungen Frau, die vom realen Sozialismus bitterlich enttäuscht wurde. Doch, keine Sorge: die Haare der Historiker beruhigen sich bald wieder.

In die wie immer höchst abenteuerliche Comic-Handlung der Spirou-Geschichten streut Flix peu à peu belegbare Informationen über Zeitgeschichte und Alltagsleben in der letzten Phase der DDR ein. Der in Berlin lebende Künstler erweist sich dabei als Kenner des Geschehens in der Zeit der friedlichen Revolution 1989. Vor allem weiß er von den Unterschieden zwischen dem äußeren Schein des „Friedensstaates“ und den oft subtilen, oft plumpen Unterdrückungsmechanismen der Staatsorgane gegenüber Andersdenkenden. Das beginnt bei den Schikanen der Grenzkontrolle und endet beim Psychoterror der Staatssicherheit gegenüber staatsfeindlichen und verdächtigen „Elementen“.

Flix ist in seiner Ligne Claire zudem ein präziser Dokumentarist der örtlichen Verhältnisse – sei es in der Darstellung des Grenzübergangs im Bahnhof Friedrichstraße (im Volksmund „Tränenpalast“ genannt), der Fassaden und des Interieurs des inzwischen abgerissenen Ostberliner Palasthotels oder der Straßenszenen um den Alexanderplatz. Selbst das Drehrestaurant im Fernsehturm wird Schauplatz dramatischer Ereignisse.

Dass sich vor dieser realistischen Kulisse und in den glaubwürdig gezeichneten Milieus die Figuren als Typenkarikaturen bewegen, die die Handlung in irrsinnigen Aktionen auf die Spitze treiben, erleichtert auch Erkenntnisprozesse der Leser. Kleine Aha-Erlebnisse verbinden sich mit großem Lesevergnügen. Ironie und satirische Überzeichnung waren schon immer ungemein brauchbare und von den Machthabern gefürchtete Handwerkzeuge zur Entlarvung kritikwürdiger individueller und gesellschaftlicher Zustände. Insofern ist gerade jungen Lesern, die sich der Geschichte der deutsch-deutschen Teilung auf etwas andere als der konventionellen Les-Art nähern wollen, zu wünschen: Mehr solcher Themen in Gestalt von spannenden, fantasievollen und trotzdem tiefgründigen Comics!
Buchcover Spirou in Berlin

Von Siggi Seuß

​Siggi Seuß, freier Journalist, Hörfunkautor und Übersetzer, schreibt seit vielen Jahren Kinder- und Jugendbuchkritiken.