Adrian Lobe Speichern und Strafen. Die Gesellschaft im Datengefängnis

Buchcover Speichern und Strafen. Die Gesellschaft im Datengefängnis

Inhaltsangabe des Verlags

C.H.Beck Verlag
München 2019
ISBN 978-3-40674-179-1
256 Seiten
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Neues aus der Disziplinargesellschaft

Vor einiger Zeit haben wir hier Armin Nassehis historische Studie zu den Vorläufern der Digitalisierung vorgestellt. Der Soziologe lässt das personenbezogene Datensammeln auf die Entstehung der Statistik im späten achtzehnten Jahrhundert zurückgehen. Die Moderne ist somit mediengeschichtlich gesehen auch eine Emanzipation vom unberechenbaren Einzelereignis. Sie diente zwei Jahrhunderte lang vor allem der Repräsentation von Dingen, die als „Muster“, so lautete auch der Titel von Nassehis Buch, nicht sichtbar gewesen waren. Das einundzwanzigste Jahrhundert hält Nassehi zufolge aber einen epistemologischen Wandel bereit. Die Zeichen – inzwischen auf ihre Schrumpfform von Nullen und Einsen gebracht – führen losgelöst von ihrer repräsentativen Funktion ein fruchtbares Eigenleben. Entkoppelt von der echten Welt, die sie doch zu repräsentieren angetreten sind, werden sie jetzt selbst schöpferisch. Ganze Welten entstehen, die gar nicht mehr den Anspruch haben, sich auf eine Referenzwelt zu beziehen. „Die Daten sind selbst das Material, mit dem etwas erzeugt wird: Erkenntnisse, und darüber hinaus: Produkte, Dienstleistungen, politische Kontrolle, Strafverfolgung, Spionage, technische Steuerung etc.“
 
An diesem Punkt setzt Adrian Lobes Buch „Speichern und Strafen. Die Gesellschaft im Datengefängnis“ an. Dort, wo Nassehi als Sozialwissenschaftler argumentiert, tut Lobe es als Journalist, der die konkreten Anwendungsfelder digitaler Technologien vorstellt und ihrer Eigenlogik nachgeht. Obwohl man vieles schon gehört hat, ist es doch erschütternd, hier noch einmal aufgezeigt zu bekommen, wie rasant sich digitale Vermessungstechniken in den vergangenen Jahren entwickelt haben und welche konkreten Herausforderungen das für unsere Demokratien, für unser Rechtsverständnis und unser Menschenbild darstellt. Dass Handlungsbedarf besteht, müssten nach der Lektüre dieses Buchs selbst Technikoptimisten einsehen. Denn vieles kommt als harmlose Arbeitserleichterung getarnt daher. Beispielsweise wenn Google mit seinem Dienst Street View ganze Landschaften kartografiert und damit auch einen „justiziablen Beifang“ generiert: Straßendealer, Einbrecher, Prostituierte, Schwarzarbeiter.
 
Doch die Digitalisierung hilft nicht nur dabei, Verbrecher auf frischer Tat zu ertappen. Der Algorithmus zieht auch Schlüsse aus bestimmten Datenauffälligkeiten. So hat beispielsweise die Stadt Boston einen „City Score“ eingeführt. Dieser berechnet die Performanz der Stadt. Etwa die Redaktionszeit der Notrufe, die Müllproduktion, die Zahl der Schlaglöcher auf öffentlichen Straßen, die Staus. Ist der Score gut, können die Bürger guter Dinge das Haus verlassen. Es gibt sogar eine Prognose für Messerstechereien und Schießereien: „Regieren nach Daten“, nennt Adrian Lobe diesen harmlos daherkommenden Bürgerservice. Für die Polizeiarbeit ist die digital unterstützte Prognostik von großem Wert. Gleichzeitig stellt sie jedoch unser Rechtsverständnis in Frage. Denn durch sie können Verbrechen zum Gegenstand polizeilicher Ermittlungen werden, die noch gar nicht geschehen sind. Etwa wenn jemand künftig nicht mehr wegen Trunkenheit am Steuer bestraft wird, sondern ihm ein Gesichtsscanner aufgrund rein statistischer Tendenz zum Exzess grundsätzlich den Zugang zu Autos verwehrt. Predictive Policing nennt sich diese neue Methode, die die amerikanische Polizei bereits jetzt in sogenannten Precrime Units einsetzt. Wenn ihr Rechenzentrum eine hohe Einbruchswahrscheinlichkeit für ein Wohnquartier errechnet, schickt sie eine Streife vorbei.
 
Das klingt nicht neu. Prävention ist immer schon Teil der Polizeiarbeit gewesen. Dennoch könnte der digitale Trend zur Datenerfassung zu etwas führen, das Adrian Lobe „Post-Strafgesellschaft“ nennt. Der Endzustand wäre demnach eine Gesellschaft, die durch digitale Überwachungsassistenten derart gut observiert wird, dass sie das Verbrechen in seiner Funktion als systemstabilisierende Abweichung gleich ganz abschafft. Wir würden dann nicht mehr in einem Rechtsstaat leben, in dem die Möglichkeit zum Verbrechen als Paradoxie der Freiheit besteht, sondern in einem Staat, der das Verbrechen im Keim erstickt. Auf Basis von angsteinflößenden Erziehungsmaßnahmen. Das Perfide dieser Machttechnik, schreibt Lobe, sei „dass Freiheitsrechte nicht mehr eingeschränkt werden müssen, sondern erst gar nicht ausgeübt werden können“.
 
Wie digitale Machttechniken mit autoritären Regierungssystemen interagieren, kann man in China verfolgen. Ein neues Sozialkreditsystem hält die Bürger in Schach und sichert dem Regime größtmögliche Konformität. Wer sich nicht assimiliert, dem wird die Internetgeschwindigkeit gedrosselt. Umgekehrt bringt ein hoher Sozialpunktestand für die neu entstehende chinesische Mittelschicht Privilegien wie eine größere Wohnung, ein Visum nach Singapur und dergleichen Annehmlichkeiten mehr mit sich. Dass wir solchen Verlockungen in Europa nicht nachgehen wollen und können, liegt auch mit Blick auf unsere jüngere Geschichte auf der Hand. 
 
Harmlosigkeit ist ein Schlagwort der Stunde. Die neuen Regierungstechniken kommen auf leisen Sohlen in unseren Alltag. Siri, Alexa und Cortana sind die Stimmen einer Stochastik, die uns auswertet und vorausberechnet. Die immer intimeren Personenkontrollen durch Körperscanner an Flughäfen verraten weit mehr über unseren Lebensstil als uns lieb sein kann. Foucault, der heute als Chefdenker der Disziplinargesellschaft gilt, machte vor allem Kirche und Psychiatrie für die Zurichtung des Subjekts verantwortlich. Im neuen Jahrtausend sind es die Algorithmen, die definieren, was Normalität ist.
 
Das letzte Kapitel widmet sich der Möglichkeit einer „Post-Wahl-Gesellschaft“. Algorithmen, schreibt Lobe, kennen uns inzwischen besser als wir selbst. „Wäre es da nicht konsequent, die besser informierten virtuellen Assistenten für uns wählen zu lassen?“ Auf das kollektive Gefühl der „Freiheitsüberforderung in einer multioptionalen Gesellschaft“ haben die Tech-Konzerne eine verführerische Antwort: „techno-autoritären Lösungen“. Damit wird Regieren zur „Prozesssteuerung“ im laufenden Betrieb. Und so könnte die Zukunft tatsächlich aussehen. Höchste Zeit also, die Kraft der individuellen Abwägung hochzuhalten. Daten, die irgendwann ohne Referenz in der wirklichen Welt arbeiten, die also keine Diener von Menschen mehr sind, sondern selbst das Regiment übernehmen, könnten zum Sargnagel der westlichen Demokratien werden. Ein Gut, über dessen Wert neu diskutiert werden muss. Vor allem in einer Welt, in der es von politischen Akteuren mit autoritärer Agenda rasant und weltumspannend untergraben wird.
Buchcover Speichern und Strafen. Die Gesellschaft im Datengefängnis

Von Katharina Teutsch

​Katharina Teutsch ist Journalistin und Kritikerin und schreibt unter anderem für die Frankfurter Allgemeine Zeitung, den Tagesspiegel, die Zeit, das PhilosophieMagazin und Deutschlandradio Kultur.

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