Ein wunderbares Beispiel hierfür bietet „Andere Umstände“ (Avant Verlag) von Julia Zejn. In ihrer zweiten Graphic Novel erzählt die Illustratorin von Anja, die ungewollt schwanger ist und sich für einen Abbruch entscheidet, obwohl objektiv nichts gegen ein Kind spräche. Die Protagonistin ist fast 30, in einer festen Beziehung und hat einen Job. Zudem kann sie sich grundsätzlich vorstellen, einmal eine Familie zu gründen. Zejn zeigt, dass eine Abtreibung auch nur eine persönliche Entscheidung ist – eine, die sich die meisten Schwangeren zwar gut überlegen, die aber nicht, wie in der öffentlichen Wahrnehmung häufig suggeriert wird, immer traumatisch sein muss.
In „Anna“ (Edition Moderne) von Mia Oberländer spielt der weibliche Körper eine – im Wortsinn – besonders große Rolle. Oberländers Debüt beschäftigt sich mit der Geschichte dreier miteinander verwandter Frauen, alle größer gewachsen, als es die Norm vorsieht. Ihre Größe sorgt besonders in ihrer Heimat auf dem Land für Aufsehen. „Anna“ ist eine Geschichte darüber, wie es ist, nicht ganz reinzupassen beziehungsweise gängigen Körperidealen, wie sie auch in den Sozialen Medien propagiert werden, nicht zu entsprechen.
Mit Körpern im weiteren Sinne beschäftigt sich das Debüt „Melek+ich“ (Edition Moderne) der Leipziger Comiczeichnerin Lina Ehrentraut. In einer Mischung aus Science-Fiction und Arthouse erzählt Ehrentraut eine queere, expressionistisch illustrierte Liebesgeschichte mit mehr oder weniger expliziten Darstellungen weiblicher Körper – Nippel und Schamhaar inklusive. Damit und mit weiteren Details spielt sie auf das an, was in den Sozialen Medien häufig nicht zu sehen ist – auch weil es die Plattformen einfach löschen: (weibliche) Körper in ihrer Natürlichkeit.
Auch in „Der Spalt“ von Anke Feuchtenberger (Reprodukt) spielt der weibliche Körper oder zumindest ein Teil von ihm eine übergeordnete Rolle. So führt die Frage eines kleinen Mädchens danach, was ein Spalt sei, zu einer poetischen Bilderzählung, anhand derer die Ich-Erzählerin das Wort mit Hilfe verschiedener Assoziationen zu erklären versucht.
Zur künstlerischen Auseinandersetzung mit sich selbst gehört häufig auch der Blick auf die eigene Familiengeschichte, so auch in „Der Duft der Kiefern“ (Avant Verlag). In dieser Graphic Novel setzt sich die Berliner Zeichnerin und Autorin Bianca Schaalburg mit der NS-Vergangenheit ihres Großvaters auseinander und spürt ihrer Kindheit in einer zweigeteilten Stadt nach.
Ist der Blick in die Zukunft nicht möglich oder erscheint dieser allzu unheilvoll, wendet man sich Geschichten aus der Vergangenheit zu. So jedenfalls ließe sich der Trend erklären, historische Figuren ins Zentrum des künstlerischen Schaffens zu stellen, wie es einige Comiczeichner*innen 2021 taten. Anlässlich des 75. Geburtstags von David Bowie erschien beispielsweise jüngst die Graphic Novel „Starman“ (Carlsen Verlag). In ihr rekapituliert Reinhard Kleist die Ziggy Stardust-Jahre des 2016 verstorbenen Musikers.
Bereits etwas länger verstorben ist der Protagonist in Jan Bachmanns neuestem Comic: „Der Kaiser in seinem Exil“ (Edition Moderne) zeigt Wilhelm II. in seinem holländischen Exil und karikiert den Kaiser a. D. auf wunderbar absurde Weise. Der Bezug zur Gegenwart ist erschreckend aktuell, bedenkt man die Debatte um die Rückgabeforderungen der Hohenzollern.
Royal geht es ebenfalls in „Bloody Mary“ (Carlsen Verlag) zu, in der die Hamburgerin Kristina Gehrmann sich der Lebensgeschichte der ersten Königin Englands Queen Mary widmet. Neben den grausamen Rekatholisierungsmaßnahmen, die diese im England des 16. Jahrhunderts vollzog und denen sie den Spitznamen „Maria die Blutige“ verdankt, zeigt Gehrmann, welchen Ängsten die Adelige aus dem Hause Tudor zeitlebens ausgesetzt war.
Bemerkenswert ist auch der Comic „Über Leben“ (Jaja Verlag) von Maki Shimizu. Die Wahlberlinerin verbindet darin eine bildnerische Sozialstudie mit der erzählerischen Struktur eines Krimis. Themen wie Tod, Gewalt und Missbrauch spielen hier ebenso eine Rolle wie Gentrifizierung und Obdachlosigkeit in der Großstadt, aber auch Freundschaft und Zusammenhalt.
Abzulesen ist aus den Veröffentlichungen 2021 ein Trend, der sich 2022 fortsetzen und uns allerlei spannende autofiktionale Stoffe bescheren könnte: Die künstlerische Auseinandersetzung mit dem Selbst sowie mit der eigenen Biografie dürfte bei den Illustrator*innen weiterhin hoch im Kurs stehen – und vielleicht werden individuelle Anekdoten dann ja auch wieder mehr in einen gesamtgesellschaftlichen Kontext gebracht.
Sophia Zessnik arbeitet als Journalistin und Social Media-Redakteurin bei der taz in Berlin. Sie schreibt meistens über Literatur junger Autor*innen, toxische Männlichkeit sowie Gesellschaftliches; besonders gerne, wenn es in Comicform aufbereitet ist. In ihrer Kolumne „Great Depression“ beschäftigt sie sich außerdem mit dem Thema psychische Gesundheit.
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