Dayeon Auh Ein Berg, ein Sturz, ein langes Leben

Buchcover Ein Berg, ein Sturz, ein langes Leben

Inhaltsangabe des Verlags

NordSüd Verlag
Zürich 2024
ISBN 978-3-314-10683-5
40 Seiten
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Übersetzungsförderung
Für diesen Titel bieten wir eine Übersetzungsförderung ins Polnische (2025 - 2027) an.

Es purzelt und stürzt und tanzt und hüpft …

Das Bilderbuchdebüt von Dayeon Auh

Schon das Titelbild lässt einen erahnen, wohin die Reise geht im Bilderbuch „Ein Berg, ein Sturz, ein langes Leben“: In eine wilde, gefährliche Gebirgslandschaft. Wie ein lilafarbener Zuckerhut steht er da, der Berg des Grauens, und ragt kühn in den güldenen Himmel. Zu seinen Füßen sprießen allerlei wunderliche Gewächse. Auf einer Seite des Berges sieht man einen bärtigen Mann in Stiefeln scheinbar mühelos den furchtbar steilen Hang hochrennen. Auf der anderen Seite purzelt derselbige, holterdiepolter, wieder hinunter. Wenn das mal keine Parabel auf die Mühsal des Lebens wird!

Tatsächlich führt die in Deutschland lebende südkoreanische Künstlerin Dayeon Auh in ihrem Bilderbuchdebüt die jungen Leserinnen und Leser, mitsamt allen Menschen, die gerne in weise Geschichten eintauchen, in ein traditionelles koreanisches Volksmärchen um einen Großvater und seine kleine Enkeltochter. Aber nein! Es geht um viel mehr, nämlich um die Kunst, trotz oder gerade wegen der unvermeidlichen Stürze auf dem mitunter holprigen Lebensweg, wieder aufzustehen, den Dreck aus dem Gewand zu schütteln, sich die Hände zu reiben und vollen Mutes und voller Hoffnung weiterzugehen. Das Märchen beginnt damit, dass die Legende sagt: Wer auf dem Berg, zu dessen Füßen der Großvater lebt, stolpert und stürzt, der habe nur noch drei Jahre zu leben.

Aber erst einmal betrachtet man die friedliche Welt des Großvaters mit staunenden Kinderaugen. Alle Szenen sind kunterbunt zu Papier gebracht – wie mit dicken, üppigen Pinsel- und Wachsmalkreidestrichen von Kinderhand gemalt. Mit Perspektiven, die aus den Fugen geraten sind, mit Größenverhältnissen zwischen den Dingen, die die reale Welt auf den Kopf stellen und mit Lebewesen, die der ungezügelten Fantasie von Kindern entsprungen sein könnten. Der alte Mann mit abstehendem Kopfhaar und einem mächtigen Vollbart steht vor seinem Holzhäuschen im Garten, mit kariertem Holzfällerhemd, in Stiefeln und mit knorrigem Stock. Vermutlich ist er mit dem, was er in seiner kleinen Welt sieht, sehr zufrieden: zauberhafte Pflänzchen, einen lebensprallen, saftiggrünen Laubbaum, ein paar magisch anmutende Lebewesen, einen goldgelb gemusterten Himmel und am Horizont – den Berg. All das wirkt wie ein kunterbuntes Gemälde aus Kinderhand, lustvoll, krakelig und ohne Umschweife aus der Fantasie zum Leben erweckt. Kein Wunder also, dass der Großvater noch lange leben möchte, wo es so vieles Schönes um ihn herum gibt! Doch aus der nahezu pastoralen Stimmung des Anfangs entwickelt sich Bild für Bild eine dramatische Erzählung, in der Großvaters Idyll gehörig ins Wanken gerät.

Der alte Mann macht sich wieder einmal auf den Weg zum Markt. Und der führt über den Berg. Unterwegs hört der Großvater ein Rascheln aus einem Gebüsch, erschrickt und – stürzt. „Um Himmels Willen!“ wird es ihm augenblicklich in den Kopf schießen. „In drei Jahren werde ich sterben!“ Am Ende dieser Zeit fühlt sich der Großvater tatsächlich von Tag zu Tag kränker. Aber selbst die beste Ärztin weit und breit findet keine Ursache für den Zustand des Alten. (Der Psychologe würde sagen: „Ein typischer Fall von selbsterfüllender Prophezeiung!“) Doch dann kommt das kluge Enkeltöchterchen zu Besuch, denkt ein bisschen nach, und schon purzelt aus ihrer Gedankenblase eine geniale Idee: „Opa, wenn du noch einmal hinfällst, lebst du noch mal drei Jahre länger. Wenn du dann noch mal fällst, lebst du sechs Jahre länger. Und wenn du drei Mal fällst, lebst du sogar neun Jahre länger ...“

Heureka! Großvaters Stimmung bessert sich von Stund an. Er hüpft und tanzt und stürzt und purzelt und rappelt sich wieder hoch und tanzt, dass es für Jung und Alt eine wahre Freude ist, dem munteren Treiben zuzusehen. Da lachen sogar die Vögel und die ganze kunterbunte Bilderwelt jubiliert, tanzt und dreht sich im Kreis. Selbst der Berg des Grauens kommt aus dem Lachen nicht heraus und schrumpft freundlicherweise zu einem blaugrünrotgraulilafarbenen sanften Hügel, auf dem die Menschen nach Lust und Laune herumpurzeln können. Kein Wunder also, dass man ihn von nun an „Berg des langen und glücklichen Lebens“ nennt.

Dass in einem Bilderbuch gleich zwei lebensweise Lebensweisen – die Klugheit eines Kindes und der wiedergewonnene Lebensmut eines alten Menschen – in solch freundlich-vergnüglicher Art zusammenfinden und von Jung und Alt verstanden werden, das kommt nicht alle Tage vor.
Buchcover Ein Berg, ein Sturz, ein langes Leben

Von Siggi Seuß

​Siggi Seuß, freier Journalist, Hörfunkautor und Übersetzer, schreibt seit vielen Jahren Kinder- und Jugendbuchkritiken.

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