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Bücherwelt
Gedichte am Taupunkt

Erb, Poschmann, Preiswuß
© Suhrkamp Verlag, © Berlin Verlag

Aktuelle Tendenzen der deutschsprachigen Lyrik

von Beate Tröger


„Poesie ist lebensnotwendig. Sie leistet gesellschaftliche Arbeit, und sie kann das auf keine andere Weise tun als poetisch“, schreibt die Lyrikerin Elke Erb, die 2020 für ihr literarisches Lebenswerk mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet wurde. Unter dem Titel Das ist hier der Fall haben Monika Rinck und Steffen Popp, beide selbst Lyriker*innen, Gedichte aus dem Werk der Autorin ausgewählt. Der Bandtitel ist einem Gedicht von 2018 entnommen: „Ich wache auf / und finde einen Zettel, auf dem steht: / Ist mir doch egal / Ich lese immer morgens / »der knallblaue Bach« / (mit am Rand / den Vergißmeinnicht). / Und: mein Pferd ist im Stall. / Es ist nicht der Sinn eines Pferdes, sich zu zeigen. / Alle Federpracht trägt der Pfau auf dem Rücken. / Er weiß von nichts. / Ich geh Blumen pflücken. / Das ist hier der Fall.“ Ausgerichtet aufs Alltägliche, Vorfindbare, in Fragen der Schönheit selbstvergessen wie ein Pfau und gelassen wie ein Pferd wird hier gesellschaftliche Arbeit des Gedichts präziser bestimmt. Seine Rebellion begründet sich darin und in seiner ökonomischen Unverwertbarkeit, vermeintlichen Randständigkeit.

In dem an eindrucksvollen Gedichtbänden überaus reichen Jahr 2020 sind viele Bände erschienen, die lesbar sind als eine solche Rebellion, als Aufforderung, wachsam zu fragen, was wie gesagt wird, jenseits von Relevanzdiskursen und ideologischen Grabenkämpfen. Über einen Kamm scheren lassen sie sich aber nicht, da ihnen ja gerade das Forschen nach dem eigenen Ton eigen ist.

Nach einem angemessenen Sprechen über Naturphänomene im Zeitalter des Anthropozän, in dem der Mensch seine Umwelt in ungekanntem Ausmaß beeinflusst, fragt der gefeierte fünfte Gedichtband Nimbus der 1969 in Essen geborenen Marion Poschmann. Diskret wird darin verhandelt, wie (künstlerisches) Sprechen, Denken und Verhalten die Verhältnisse mitbestimmt. Das Auftaktgedicht, welches „Und hegte Schnee in meinen warmen Händen“ heißt, mutet erst fürsorglich an, entpuppt sich aber als Zerstörungswerk: Im Gedicht bersten Berge nicht durch Natur-, sondern Menschengewalt. Ob das sprechende Ich erkennt, dass es in einer Verantwortung steht, bleibt offen, sodass es auch den Leser*innen freisteht, diese Frage für sich zu bedenken.
 

Utler, Beyer, Küchenmeister © Edition Korrespondenzen, © Suhrkamp, © Schöffling

Von einer anderen Schmelze spricht der Titel des dritten Gedichtbandes der 1980 in Lübz geborenen Kerstin Preiwuß, Taupunkt. Der Taupunkt misst die Luftfeuchtigkeit, bezeichnet die Temperatur, die bei konstantem Druck unterschritten werden muss, damit sich Wasserdampf als Tau oder Nebel abscheiden und Kondenswasser bilden kann. Der Titel deutet an, dass die Gedichte Zustände und Gefühle umkreisen, die dem Taupunkt ähneln, der ins Stocken oder Fließen gerät, wenn sich Temperatur- und Druckverhältnisse ändern. Die Gedichte sind „das Pragma so leid“, fahnden nach einer singenden Sprache, die das schlechte Alltägliche, Achtlose hinter sich lassen kann: „Ich hab genug von diesem Wiederkau / von dieser Spreusättigung / dass sich alles was man tut verbraucht“.

Das Sangliche und Rhythmische der Lyrik feiert der Band kommen sehen der 1973 in Schwandorf geborenen Anja Utler. Ihr streng in Zweizeilern gebautes, dystopisches Langgedicht spielt in einer Zukunft, in der das Wasser knapp geworden ist, Männer für das Fortbestehen der Menschheit nicht mehr notwendig sind. Es sprechen drei Frauen dreier Generationen. Sprechen sie miteinander? Oder gegeneinander und beweisen damit, dass das Unheil der zerstörerischen Kraft eines Sprechens innewohnt, das nicht auf Verstehen setzt? Aus anderer Richtung als Nimbus denkt kommen sehen kritisch über die Verantwortung des Einzelnen nach.

Streng bedacht auf die Form sind auch die Bände Dämonenräumdienst des 1965 in Tailfingen geborenen Büchner-Preisträgers Marcel Beyer und Im Glasberg der 1980 in Berlin geborenen Nadja Küchenmeister. Während in Beyers Band mit einer Ausnahme alle Gedichte aus zehn Strophen zu jeweils vier Zeilen bestehen, ordnet Küchenmeister die meisten von ihnen in Terzetten an. Und während die Gedichte in Dämonenräumdienst humorvoll mit Dämonen als den dienstbaren Geister zweifelhafter Esoterik aufräumen zugunsten eines aufklärerischen Denkens: „Ich lernte, noch in der friedlichsten / Idylle lebt ein Homöopath – ein / Homöopath, dem alles zuzutrauen ist“, rechnet Küchenmeisters lyrisches Ich mit der Vergangenheit ab, mit falschen Versprechungen von Vätern und Liebhabern – bildkräftig, selbstkritisch, manchmal kühl: „wir sehen uns nie wieder / du erinnerst dich an mich, ich erinnere mich // an dich, es macht keinem etwas aus. ich gebe zu / das wäre mir lieber. ich erinnere mich ans erinnern // noch mehr erinnre ich mich an nichts.“
 

Breyger, Kraus, Bulucz © Kookbooks, © Schöffling

Zahlreiche der Bände des Jahres 2020 sind verfasst von Lyriker*innen, deren Muttersprache nicht Deutsch ist. Im zweiten Gedichtband Gestohlene Luft des 1989 in Charkiv geborenen Yevgeniy Breyger bleibt dieser Umstand diskret. Den Zyklen des Bandes kommt man mit der Frage näher, wie darin unterschiedliche Redeweisen, überzeitliche und zeitgebundene Sprache zueinander in ein produktives Spannungsverhältnis gebracht werden.
 

Jeschke, Savic, Warzecha © hochroth, © Verlagshaus Berlin, © Matthes & Seitz

​​​​​​​ Deutlicher drückt sich die Herkunft der Autor*innen aus in den Bänden der 1981 in Wroclaw geborenen Dagmara Kraus, dessen Titel Liedvoll. Deutschyzno die Ambivalenzen der Mehrsprachigkeit im Kunstwort „Deutschyzno“ und der semantischen Nähe von „liedvoll“ zu „leidvoll“ andeutet. Und Alexandru Bulucz, 1987 in Alba Iulia geboren, erinnert sich in seinem zweiten Band Was Petersilie über die Seele weiß auch an eine Kindheit auf dem rumänischen Land.

Lust am Spiel mit der Sprache und der Wunsch, Lyrik als Korrektiv zu verstehen, lassen sich aus mehreren Debüts des Jahres herauslesen. Lisa Jeschkes Die Anthologie der Gedichte betrunkener Frauen, Caca Savics Teilchenland oder Saskia Warzechas Approximanten vermessen das Spannungsfeld zwischen Befragen und Aussagen, zwischen Kunst- und Welterleben selbstbewusst und gekonnt. Erbs Erb*innen bekräftigen nachdrücklich die Lebensnotwendigkeit und gesellschaftliche Arbeit der Poesie.


Beate Tröger
Beate Tröger ist Journalistin, Kritikerin und Moderatorin. Sie rezensiert unter anderem für den Deutschlandfunk, den SWR, den Freitag und die Frankfurter Hefte. Sie ist Mitglied in der Jury des Peter-Huchel-Preises für deutschsprachige Lyrik.