Robert Menasse Die Welt von morgen. Ein souveränes demokratisches Europa – und seine Feinde

Buchcover Die Welt von morgen. Ein souveränes demokratisches Europa – und seine Feinde

Inhaltsangabe des Verlags

Suhrkamp Verlag
Berlin 2024
ISBN 978-3-518-43165-8
192 Seiten
Verlagskontakt

Dieses Buch wurde vorgestellt im Rahmen des Schwerpunkts Italienisch (2022 - 2024).

Mitteleuropa retten – alte Utopien in neuem Gewand

„Europäische Nationen sind bewusst (!) und planvoll (!!) in einen nachnationalen (!!!) Prozess eingetreten.“ Ein Buch, das einen anschreit, ist nicht unbedingt ein gutes Buch. Es sei denn, es handelt sich um einen politischen Essay von Robert Menasse, dem Prosaisten und Propagandisten der Europäischen Union mit supranationalem oder auch postnationalem Profil. Und manchmal ist es eben nötig, etwas aufgerüttelt zu werden. Umso mehr, wenn gerade Wahlen in europäischen Landen abgehalten wurden, die in weiten Teilen Deutschlands und Österreichs die blauen Schleier des Populismus hinterließen.

Die Stimmung in Europa, das muss man wohl sagen, ist nicht gut. Wenig ist vom Geist des Aufbruchs zu spüren, der einer Nachkriegsordnung und ihrem politischen Idealismus des „Nie wieder!“ entsprang. Stattdessen verdüstern sich die Aussichten auf ein Staatengebilde, das endlich das nationale Phantasma einer Einpanzerung, Abgrenzung und Abwendung vom großen Solidarprojekt aller Europäer hinter sich lassen wollte. „Ich bin kein Hellseher“, schreibt Robert Menasse in seinem neusten Essayband, „ich sehe schwarz“.

Menasse wäre aber nicht der Polemiker, als der er sich der deutsch-österreichischen Öffentlichkeit seit Jahrzehnten präsentiert, wäre das nicht halb geflunkert. Immerhin gibt es jetzt ein Buch, das uns alles noch einmal erklärt. Warum wir an ein nachnationalstaatliches Europa glauben sollten, ja glauben müssen. Weshalb wir das dystopische Denken aus unseren Köpfen und Herzen vertreiben sollten und müssen. Und wieso wir Angst haben sollten, aber Angst vor den richtigen Dingen. Man müsse die Ängste der Menschen verstehen, die rechtspopulistische, menschenverachtende Parteien wählen, heißt es immer wieder. „Das macht mir Angst“, schreibt Robert Menasse wütend. „Und weit und breit kein Politiker, der sagt: Wir müssen die Ängste von Herrn Menasse ernst nehmen.“

Diese Ängste sind anders als die Ängste vor Migration, vor Abstieg, vor Modernisierung und Extremwetterereignissen nicht diffus, sondern real. Wenn sich auf sogenannten Querdenkerdemonstrationen im Jahr 2020 friedlich vereint Neonazis und solche Menschen, die es unproblematisch finden mit Neonazis zu demonstrieren, über die Demokratie hermachen, dann bekommt Robert Menasse, Sohn eines jüdischen Fußballprofis aus Wien, es mit der Angst zu tun. Deswegen wirbt er in „Die Welt von morgen“ für eine bessere Welt. Die Welt von morgen könnte nämlich auch ganz anders aussehen. Weltoffen, menschenfreundlich, offensiv lösungsorientiert. Zeit für alte Utopien in neuem Gewand.

„Es gab ja schon eine Zeit, da wurde, zumindest rückblickend, ein großer politischer Zusammenhang wesentlich als Kulturraum verstanden. Der Begriff dafür war ‚Mitteleuropa‘.“ Hier bezieht Menasse sich auf die Begriffsverwendung im alten Habsburgerreich, in dem sich Völker ein Großterritorium teilten, einen gemeinsamen Markt, eine Währung, eine Verwaltung, ein Parlament und ein progressives Modell der Zuerkennung nationaler Identität nicht über ein Territorium, sondern über kulturelle Zugehörigkeit. Wie auch Religionsgemeinschaften ihre Mitglieder überall auf der Welt in entsprechenden Institutionen auffangen, hatte „Mitteleuropa“ das pragmatische Projekt, die Zugehörigkeitsbedürfnisse seiner Bürger kulturell zu lösen. „Dieses System wurde zunächst in zwei Kronländern der Habsburgermonarchie eingeführt, in Mähren und in der Bukowina. In Galizien, wo es schon praktiziert wurde, sollte es 1914 offiziell Rechtsstatus werden, wozu es aber wegen des Kriegsausbruchs nicht mehr kam.“

Dieser altösterreichische Rechtsstaat, von den bedeutendsten Staatsrechtlern zu seiner Zeit diskutiert, sei als Idee noch heute avantgardistisch, schreibt Menasse. Zugehörigkeit zur EU funktioniert derzeit nur über die nationale Staatsangehörigkeit in einem EU-Land, nicht über den „Kulturraum“ EU. Auch die mit großen Erwartungen vollzogene Osterweiterung brachte statt europäischem Geist in einer nachsowjetischen Ära nur weiteren nationalen Furor. Egal ob es um die Covid-Seuchenbekämpfung geht, um Schulden, um Flüchtlinge oder um Klimaerwärmungsfolgen: Europa ist weit davon entfernt, politisch an einem Strang zu ziehen. Nationale Konkurrenz, über den europäischen Rat betrieben, blockiert das demokratische Potenzial der Kommission. Das hält Menasse für eine der kapitalen vertanen Chancen des globalisierten 21. Jahrhunderts.

„Die Welt von morgen“ präsentiert in 38 unterschiedlich kurzen Kapiteln die Argumente für ein nachnationales Europa. Teilweise legt Menasse diese anekdotisch an, teilweise informativ und teilweise aphoristisch: Ob das Glas halb voll oder halb leer sei, will der Autor einmal von sich selbst wissen. „Wie mich diese Phrase nervt! Es geht doch darum, ob wir die Möglichkeit haben nachzuschenken!“

Und nachschenken tut Menasse allemal. Er zeichnet die Utopie einer Gemeinschaft, die sich kulturell definiert, ohne damit reaktionär zu verfahren; die nicht geschichtsvergessen ihre gerade gewonnene Freiheit an den Neoliberalismus verhökert und die ihre Erinnerungskultur nicht feisten Zynikern ohne Visionen überlässt. Wie auch die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot, mit der Menasse als Essayist zusammengearbeitet hat, fordert Menasse, sich auf die idealistischen Anfänge des Europaprojekts zurückzubesinnen. „Voraussetzungen dazu wären: erstens, ‚unsere Werte‘ aus dem Wörterbuch der Phrasen zu streichen und sie zu einem wahren Prinzip unseres politischen Handelns zu machen, auch wenn es zu diplomatischer Verstimmung mit den USA oder zu Handelsproblemen mit China führen könnte. […] Zweitens muss die Idee des Projekts Europa rekonstruiert und konsequent vertreten werden.“ Das klingt alles so einfach. Warum es dennoch so nötig ist, es für die Welt von morgen immer wieder zu betonen, erfährt man in diesem engagierten Buch.
Buchcover Die Welt von morgen. Ein souveränes demokratisches Europa – und seine Feinde

Von Katharina Teutsch

​Katharina Teutsch ist Journalistin und Kritikerin und schreibt unter anderem für die Frankfurter Allgemeine Zeitung, den Tagesspiegel, die Zeit, das PhilosophieMagazin und Deutschlandradio Kultur.

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