Sachbuch
Steffen Mau
Ungleich vereint. Warum der Osten anders bleibt
Ist der Osten eine Erfindung des Westens oder hat der Osten sich selbst erfunden?
Steffen Mau blickt auf ein gespaltenes Land und sieht Perspektiven.
Seit einigen Jahren wird in Deutschland heftig um Deutschland gestritten. Vor allem seit dem flächendeckenden Erfolg der rechtspopulistischen „Alternative für Deutschland“ bei mehreren Landtagswahlen in den immer noch „neu“ genannten Bundesländern. Den Verteidigern der Demokratie stellt sich dabei die Frage, was falsch gelaufen ist während und nach der Wiedervereinigung. Wieso zeigen sich so viele Menschen in Ostdeutschland nicht nur als demokratiemüde, sondern seit den PEGIDA- und Querdenker-Protesten auch als geradezu demokratiefeindlich? Wie kam es dazu, dass sich fast 35 Jahre nach der friedlichen Revolution im Osten und nach dem Zusammenschluss von Ost und West so viele Ostdeutsche als marginalisierte Minderheit in einer westdeutschen Mehrheitsgesellschaft wähnen und diese deswegen zunehmend abwählen?
Das fragen sich heute nicht nur die Konstrukteure der Wiedervereinigung, sondern inzwischen auch die Kinder der Wende- oder Nachwendejahre. Erstaunlicherweise blicken dabei junge Ostdeutsche, die das DDR-Regime selbst nicht mehr erlebt haben, jedoch mit Eltern im Krisenmodus aufgewachsen sind, eher milde auf die letzten DDR-Bürger. Abgerechnet wird selten. Eher Empathie gefordert für kassierte Lebensentwürfe, mit denen sich die junge Generation laut Umfragen stärker identifiziert als die Protagonisten der Wende.
Bei der Deutung des Ostens und seiner Bewohnerinnen und Bewohner haben sich inzwischen auch in der Wissenschaft zwei dominante Fraktionen gebildet. Zum einen diejenigen Historiker und Soziologinnen, die sich um eine Aufwertung der DDR-Alltagskultur stark machen und für ihre Rehabilitierungsversuche vor allem aus dem Osten viel Zustimmung erhalten. Ein anderer Teil der professionellen Beobachter sieht in der politischen Stimmung im Ostteil des Landes vielmehr eine logische Kontinuität zur unaufgearbeiteten Gewalterfahrung aus zwei Diktaturen. Beide Fraktionen stehen sich hochemotional und feindselig gegenüber.
Der 1968 in Rostock geborene und in Berlin lehrende Soziologe Steffen Mau möchte hier eine Brücke schlagen. Sein Blick auf die Situation zwischen 1989 und 2024 ist der des Statistikers. Nebenbei räumt er elegant ein paar neu verfestigte Meinungen aus dem Weg. Etwa die seit den Rehabilitationsbüchern („Mentalpflegetexte“) des Literaturwissenschaftlers Dirk Oschmann und der Historikerin Katja Hoyer ins Spiel gebrachte und inzwischen verbreiteten Ansicht, „der Osten“ sei ein vom Westen „erzeugtes“ Konstrukt, das einen Teil der Bevölkerung nach postkolonialer Begriffslogik „verandert“ hätte.
Hier hat Steffen Mau folgende Argumentation zur Hand: Zum einen beharrt er darauf, auch im wissenschaftlichen Zusammenhang nicht vom angestrebten Ideal einer „Angleichung“ zwischen Ost und West auszugehen, sondern viel mehr auf deren Andersheit zu beharren. Denn die Unterschiede liegen für den Soziologen auf der Hand. Der Osten ist anders: die wirtschaftlichen, politischen und mentalitätsgeschichtlichen Unterschiede zu den westdeutschen Bundesländern sind unleugbar und sollen auch gar nicht geleugnet werden, wenn man es mit der pluralen Gesellschaft ernst meint. Will man den Osten und den Westen verstehen, muss man verstehen, auf welchem Fundament das jeweilige Bauwerk steht.
Zum anderen blickt Mau auf reichlich Umfragematerial zurück. So kann er gelassen feststellen, dass der Osten keine Erfindung des Westens ist. Studien haben nämlich ergeben, dass die westdeutsche Mehrheitsgesellschaft, den Osten die längste Zeit wenig auf dem Schirm hatte. Vielmehr ist es so, dass Westdeutsche die Unterschiede zu den Ostdeutschen lange kaum wahrnahmen. „Aus der Perspektive einer Mehrheitsgesellschaft fällt es häufig schwer, andere Erfahrungen überhaupt zu registrieren. Der Fisch kennt das Wasser nicht, in dem er schwimmt.“
Umgekehrt kann dieses Desinteresse der Mehrheit an „anderen Erfahrungen“ von der Minderheit als Kränkung empfunden werden. Die voranschreitende Setzung einer ostdeutschen Identität ist somit, so Steffen Mau, vor allem eine Frage der Selbstmarginalisierung – so nachvollziehbar diese aus psychologischer Sicht auch sein mag.
Mau betrachtet den Osten in „Ungleich vereint“ von allen Seiten der Statistik. Sichtbar wird eine vor allem im ländlichen Raum seit 1989 dramatisch schrumpfende, durch eklatanten Frauenmangel, aber interessanterweise nur teilweise wirtschaftliche Abgehängtheit gekennzeichnete Gesellschaft, die historisch wenig Halt in lokalen Parteiverbänden findet. So seien über Jahrzehnte oft politisch passive „Frustregionen“ entstanden, die von Identitätsverlustängsten geprägt wurden. Trotz großen Zuwanderungsbedarfs etwa durch Fachkräftemangel herrschen oft fremdenfeindliche Stimmungen vor. Hier ist es der AfD gelungen, unspezifische Ängste politisch zu monopolisieren. Die anderen Parteien sind zwar nachgezogen, wenn es um Themen wie Migration oder Gendern geht. Doch sie werden oft nur als schlechte Kopisten wahrgenommen.
Steffen Mau übt durch schlichte Beschreibung schmerzhafte Kritik an ostdeutschen politischen und kulturellen Mentalitäten. Aber er ist auch so gerecht zu sehen, dass nach der Wende oft die „Eigenleistungen der lokalen Akteure nur noch insoweit gefragt waren, als es darum ging, im Osten das im Westen bereits Vorhandene und Erprobte umzusetzen.“ Basisdemokratische Experimente der Wendezeit und Formen der Partizipation wie die „Runden Tische“ wurden übergangen. Durch eine Renaissance dieser direkten Bürgerbeteiligung könnte die „Vertrauenskrise“ der parlamentarischen Demokratie im Osten überwunden werden, hofft er. In der gezielten Förderung ostdeutscher Eliten durch Quotenregelungen sieht Steffen Mau heute außerdem ein Mittel, um aus der Demokratiekrise des Ostens eine Krisenbewältigungsstrategie für Deutschland zu machen. Hier bietet das kleine, unaufgeregte und flüssig geschriebene Sachbuch aus deutschen Krisenregionen reichlich Anschauungs- und Denkmaterial.
Von Katharina Teutsch
Katharina Teutsch ist Journalistin und Kritikerin und schreibt unter anderem für die Frankfurter Allgemeine Zeitung, den Tagesspiegel, die Zeit, das PhilosophieMagazin und Deutschlandradio Kultur.