Belletristik
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Vom Gehen und vom Bleiben
Europa im Miniaturformat: So werden die rumänischen Regionen Siebenbürgen und Banat bisweilen genannt, wegen der Vielfalt der dort beheimateten Bevölkerungs- und Sprachgruppen. In dieser Landschaft verbrachte die 1977 in Sibiu (Herrmannstadt) geborene Iris Wolff ihre Kindheit, bevor sie als Achtjährige nach Deutschland kam. Heute lebt sie als Schriftstellerin in Freiburg im Breisgau, und in jedem ihrer bislang fünf Romane, für die sie mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet wurde, ist jene frühe Prägung aufbewahrt, ebenso wie die Ereignisse und Erzählungen, die sie in ihrer rumäniendeutschen Familiengeschichte fand. In einer bezwingenden und doch leichtgängigen Prosa, die sie selbst „nahe an der Poesie“ sieht, hebt sie diesen Stoff über den persönlichen Herkunftsbezug hinaus und verwandelt ihn in essenzielle menschliche Erfahrungen.
Wolffs jüngster Roman „Lichtungen“ ist auf dem Weg, ein Bestseller zu werden, wie es der Vorgänger „Die Unschärfe der Welt“ (2020) ebenfalls war. An dessen Themen knüpft das neue Werk an, doch statt mehrere Biografien zu verfolgen, konzentriert es sich auf die Schilderung einer ungewöhnlichen Liebesbeziehung. Die Hauptfiguren Lev und Kato wachsen während der Ceauşescu-Diktatur in einem nordrumänischen Dorf an der Grenze zu Siebenbürgen auf, stammen beide aus gemischten und zerrissenen Familien und sind schon in ihrer Kindheit empfindsame Außenseiter. Lev, der unter dem frühen Verlust des Vaters leidet, muss als Elfjähriger, nach einem traumatischen Erlebnis psychosomatisch gelähmt, monatelang das Bett hüten. Seine Mitschülerin Kato, besonders klug, aber von allen gemieden (ihre Roma-Herkunft wird angedeutet), bringt ihm täglich die Hausaufgaben. Daraus entwickelt sich eine unzerstörbare Freundschaft, die in eine scheue Liebe mündet.
Doch die grundverschiedene Wesensart der beiden jungen Menschen trennt ihre Lebenswege: Als die Grenzen sich öffnen und ein Neuanfang möglich wird, verlässt die mutige, rebellische Kato das Land, um sich in Westeuropa als Straßenmalerin durchzuschlagen. Lev hingegen, schwerblütig und introvertiert, möchte bleiben, sehnt sich nach Zugehörigkeit und Verwurzelung. Er wird Waldarbeiter, dringt tief in die Natur und Geografie seiner Heimat ein, während die Menschen, denen er begegnet, ihm rätselhaft bleiben. Kato sieht er nur bei ihren sporadischen Besuchen. Bis ihn eines Tages, in Gestalt einer Postkarte aus Zürich, ein Lockruf erreicht, der endlich auch ihn zum Aufbruch treibt.
Hier lässt Iris Wolff den Roman beginnen und erzählt sodann die Handlung in umgekehrter Chronologie, vom neunten bis zum ersten Kapitel. Mit diesem Kunstgriff führt sie uns, der Perspektive Levs folgend, auf eine Zeitreise durch vier Jahrzehnte diesseits und jenseits der Revolution von 1989, von Levs Erwachsenenalter in seine Jugend- und Kindheitsjahre, von der postkommunistischen Ära zurück in die Epoche der Diktatur. Die Wandlungen und Brüche, die sich auf diesem Weg ereignet haben, werden von der Erinnerung beleuchtet, aber nicht systematisch, sondern szenisch hervorgehoben aus einer Schilderung von Landschaften, Menschen und Begebenheiten, die vieles im Dunkel oder in der Schwebe lässt.
An einer Stelle wird das Verfahren erklärt, und damit zugleich der Titel dieses berührenden Romans über Gehen und Bleiben, Vertrautheit und Fremde, Stillstand und Bewegung: „Erinnerungen waren über die Zeit verstreut wie Lichtungen. Man begegnete ihnen nur zufällig und wusste nie, was man darin fand.“ Wie durchlichtet wirkt auch Iris Wolffs Sprache, in der starke sinnliche Bilder sich mit kontemplativen Passagen in organischem Fluss abwechseln. Die Kapitel, denen Zitate aus Märchen, Gedichten, Liedern und anderen tradierten Texten in verschiedenen Sprachen vorangestellt sind, bleiben am Ende jeweils offen. Auch das erste, sodass man nicht erfährt, ob Kato und Lev, zusammen oder einzeln, irgendwo ankommen werden. Aber wie sagte Levs Großvater, der schon früh aus der Diktatur in die Freiheit flüchtete: „Man ist, einmal gegangen, immer ein Gehender.“
Von Kristina Maidt-Zinke
Kristina Maidt-Zinke ist Literatur- und Musikkritikerin der Süddeutschen Zeitung und rezensiert für Die Zeit.