Belletristik
Die Familie als ewige Konkurrenz
Man darf sich Pia, Jakob und ihren kleinen Sohn Luca eigentlich als eine glückliche Familie vorstellen. Bis zu jenem Tag, an dem Lucas Grundschullehrerin die Eltern zu einer Unterredung in die Schule bittet. Etwas ist passiert. Ein Zwischenfall mit einer Mitschülerin, als Luca mit ihr allein im Klassenzimmer war. Mädchen, so sagt die Lehrerin, denken sich so etwas nicht aus. Der Vorfall, dessen Details Jessica Lind ganz bewusst im Vagen lässt, hat Folgen. Zunächst einmal werden Jakob und Pia stillschweigend aus der Eltern-WhatsApp-Gruppe der Klasse entfernt. Dort, so wissen sie, wird nun über ihren Sohn geredet, ohne dass sie ihn verteidigen können. Vor allem aber in Pia, der Ich-Erzählerin von „Kleine Monster“, nisten sich Zweifel gegenüber ihrem Sohn ein. Verschweigt Luca den Eltern etwas? Sind Kinder so unschuldig, wie die Eltern stets glauben? Oder stecken in ihnen tatsächlich, wie der Romantitel suggeriert, manipulative „Kleine Monster“?
Die Österreicherin Jessica Lind, Jahrgang 1988, erzeugt in ihrem zweiten Roman geschickt eine ambivalente Atmosphäre. In ihrem doppelbödigen und raffiniert gebauten Text vermischen sich das Gefühl einer vermeintlich blinden Mutterliebe mit einem Schuldkomplex, der aus Pias früher Kindheit herrührt. Denkt man zunächst, dass Jessica Lind bloß einen weiteren Versuch unternehmen könnte, das Zeitgeistthema „Regretting Motherhood“ einem Roman überzustülpen, zeigt sich bald, dass es Lind um etwas Anderes geht. Der zweite Handlungsstrang des Romans erzählt von Pias Aufwachsen und von ihrem Verhältnis zu den eigenen Eltern. Pia war die älteste von drei Schwestern. Romi, die mittlere Schwester, kam als Adoptivkind in die Familie und versuchte seit der frühen Kindheit ihren eigenen Weg zu gehen. Linda, die jüngste Schwester, der Pias Sohn Luca verblüffend ähnlich sieht, ist im Alter von vier Jahren in einem See in der Nähe ihres Elternhauses ertrunken. Pia lag zu diesem Zeitpunkt krank im Bett; Romi hat, so wird es erzählt, noch versucht, die Schwester zu retten.
Dieser tragische Unfall ist das heimliche, traumatische Zentrum des Romans. Er bestimmt Pias Blick auf Erziehung, Partnerschaft und ein Familiengefüge, das nach dem Tod der Schwester zu implodieren drohte. Die Eltern wurden hart, peinigten die Kinder, vor allem Romi, so lange mit Strafen, ellenlangen Verbotslisten und Züchtigungen, bis Romi sich lossagte und das Haus verließ. Jessica Lind hat an der Wiener Filmakademie Drehbuch studiert und hat ein Gespür für den Aufbau von Szenen und Dialogen. Sei es in Pias Kommunikation mit ihrer Mutter, sei es in der Auslotung ihrer Beziehung zu Jakob oder auch im Umgang mit ihrem Sohn Luca – Lind inszeniert die Institution Familie als eine permanente Konkurrenzsituation. Als ein Buhlen um Zuwendung, Aufmerksamkeit, Zeit und Status. In dieser Situation beginnt Pia, ihre Kindheitserfahrungen neu zu bewerten. Linds Geschichte lässt sich auch als Entwicklungsroman lesen; als einen langsamen Prozess der Distanzierung, der gleichermaßen zu Befreiung wie auch zu Erkenntnis führt.
Es sind diese Erfahrungswege, die „Kleine Monster“ über eine rein privatistische Geschichte heraus ins Allgemeingültige heben. Der Roman wirft auch die Frage auf, inwieweit Generationen fair und gerecht übereinander urteilen. Das Geschehen bekommen wir ausschließlich durch den Filter von Pias Weltsicht präsentiert. Eine Weltsicht, in der durchaus auch finstere, zerstörerische Tendenzen Platz haben. Auf engem Raum von rund 250 Seiten ist „Kleine Monster“ ein an der Oberfläche eher distanziert-kühler Text, in dem sich immer wieder Falltüren ins Unheimliche öffnen.
Von Christoph Schröder
Christoph Schröder, Jahrgang 1973, arbeitet als freier Autor und Kritiker unter anderem für den Deutschlandfunk, Die Zeit und die Süddeutsche Zeitung.