Das Haus am Gleis
Ein Dorfroman. Keiner, der die Dinge nostalgisch verklärt. Ein Buch, das den gegenwärtigen Zustand genau einfängt und in Rückblicken zeigt, was das Dorfleben einmal ausgemacht hat. Das Dorf ist fiktiv und heißt Austhal; es muss sich irgendwo im Fränkischen befinden, vielleicht im Fichtelgebirge. Tommie Goerz wurde 1954 in Franken geboren und ist tatsächlich in einem Dorf im Fichtelgebirge aufgewachsen. Sein Autorenname ist ein Pseudonym. Goerz hat zunächst als Texter und Kreativer gearbeitet, bevor er anfing, Regionalkrimis zu schreiben; ein Genre, das von manchen Menschen geradezu mit Verachtung gestraft wird. Im Fall dieses Autors eindeutig zu Unrecht – der präzise Blick auf Mikrostrukturen kommt nicht aus dem Nichts: Zehn Fälle rund um seinen fränkischen Kommissar Friedemann „Friedo“ Behütuns hat Tommie Goerz geschrieben; außerdem ein Buch über fränkische Wirtshäuser. Er kennt das Milieu aus eigener Anschauung, aber hier wird nichts beschönigt und in die verlogene Idylle gewendet.
Das Panorama, mit dem „Im Schnee“ eröffnet, ist beinahe ein Gemälde. Der alte Max steht am Fenster seines kleinen Hauses und blickt nach draußen auf die Apfelbäume. Es hat zu schneien begonnen, und Max blickt in die friedliche, sanfte, gedimmte Welt. Bis er ein Geräusch hört: „Irgendwann drang das Totenglöckchen durch die Stille, zuerst nur ganz leise, dieses Bimbimbimbim vom Kirchturm. Wie von weit, weit weg. Max hatte es zunächst gar nicht gehört, und als er es schließlich wahrnahm, war es, als gehörte es dazu. Zum Fallen des Schnees, zu den Mützen auf dem Zaun, zu diesem so ruhigen Weiß. Als müsste es so sein.“ Gestorben ist der alte Schorsch. Der alte Schorsch war Max‘ bester Freund, schon seit Kindheitstagen, und auch noch ein bisschen mehr als nur der beste Freund. Der Max hat nie geheiratet. Mehr braucht ein dezenter Autor nicht zu sagen; mehr müssen wir als Leser auch nicht unbedingt wissen.
Das Dorf ist gespalten. Tommie Goerz benutzt nicht Begriffe wie „Strukturwandel“, er macht sie sichtbar. Es gibt ein Neubaugebiet; die Neubewohner leben strikt getrennt von den Einheimischen; man bleibt weitgehend unter sich. Das Haus vom Max heißt „Gleis drei“, weil es so nah am Gleis steht; an jenem Gleis, von dem aus früher das Holz abtransportiert wurde. Nun kommt auch noch ab und an ein Zug, der manchmal einen Touristen ausspuckt, der Sehnsucht hat nach einer heilen Welt, die es nicht mehr gibt. Einen Bäcker oder einen Metzger gibt es auch nicht mehr.
Der Schorsch ist also tot. Und was machen die alten Leute im Dorf, wenn einer von ihnen stirbt? Sie sitzen in der Nacht beieinander, halten Totenwache und erzählen sich Geschichten. In diesen Geschichten entsteht eine Art Dorfchronik, werden alte Feindschaften rekapituliert, aber genauso wird eben auch deutlich, nach welchen Gesetzen ein Dorf in früheren Zeiten funktioniert hat. Tommie Goerz, so hat er es in einem Interview erzählt, wurde in Erlangen geboren; als er zehn Jahre alt war, zogen seine Eltern mit ihm aufs Land, Mitte der 1960er-Jahre. Er habe das, sagt Goerz, als eine Befreiung erlebt, weil er Dialekt sprechen durfte. Goerz ist darum so nah an seinen Figuren, weil er weiß, was mit ihnen im Gang ist. Niemand wird vorgeführt, niemand denunziert.
Der Tonfall des Romans ist, man kann es nicht anders ausdrücken, angemessen. Eine Geschichte, in Moll getönt, aber durchsetzt mit humoresken Szenen. Tommie Goerz schreibt schnörkellose, unsentimentale, klare Sätze und entfaltet darin auf noch nicht einmal 200 Seiten das anschauliche Panorama eines Soziotops – und das Porträt eines bemerkenswerten Mannes, der nicht weiß, dass er bemerkenswert ist, weil er wenig mehr kennt als das Leben, das er hatte; als die Landschaft, die ihn eingeschlossen hat. Er hat sein Wissen und seine Erinnerungen. Das genügt für einen wirklich wunderbaren Roman.
Von Christoph Schröder
Christoph Schröder, geboren 1973, lebt und als freier Autor und Kritiker in Frankfurt/Main. Er schreibt unter anderem für die ZEIT, den Deutschlandfunk und SWR Kultur.