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Literaturaustausch
Dem Individuum eine Stimme geben

Der marokkanische Autor und Journalist Yassin Adnan bei einer vom Goethe-Institut organisierten Gesprächsrunde auf der Leipziger Buchmesse 2016 Foto: Andreas Wünschirs
Der marokkanische Autor und Journalist Yassin Adnan bei einer vom Goethe-Institut organisierten Gesprächsrunde auf der Leipziger Buchmesse 2016 | Foto: Andreas Wünschirs

Der marokkanische Autor Yassin Adnan sprach mit dem Präsidenten des Goethe-Instituts Klaus-Dieter Lehmann und der Verlegerin Donata Kinzelbach in Leipzig über die Auswirkungen der politischen Umwälzungen auf das Schreiben im Maghreb. Im Interview erzählt er Kersten Knipp, wie sich der gesellschaftliche Wandel Marokkos in seinem Werk spiegelt, wie der Islamische Staat den Islam als Vorwand für seine Verbrechen benutzt und warum Dichtung und Poesie in dieser Situation so wichtig sind.

Herr Adnan, die Deutschen richten ihr Augenmerk in diesen Wochen auch auf Flüchtlinge, die aus Marokko nach Deutschland kommen. Nun ist das Königreich zusammen mit Algerien und Tunesien zu einem sicheren Herkunftsland erklärt worden. Dennoch: Was empfinden Sie angesichts des Versuchs junger Marokkaner, nach Europa zu gelangen?

Soweit ich sehe, ist Marokko trotz seiner wirtschaftlichen Probleme weiterhin ein sicheres Land. Im Land herrscht kein Krieg, und die Bürger sind keiner ethnischen, ideologischen oder konfessionellen Diskriminierung ausgesetzt. Wenn einige junge Marokkaner in Deutschland um Asyl nachsuchen, versuchen sie vor allem vom Zustrom syrischer Migranten zu profitieren: Für sie ist das eine goldene Gelegenheit, ihren Traum von einem Leben in einem Eldorado namens Europa umzusetzen.

Anders als viele andere Länder hat Marokko während der letzten Jahre kaum politische Konvulsionen durchlebt. Woran liegt das?

Im Frühjahr 2011 gingen zwar auch die Marokkaner auf die Straße. Allerdings forderten sie nicht den Sturz des Regimes, denn Marokko hatte bereits Jahre zuvor demokratische Durchbrüche im Bereich der Meinungs-, Demonstrations- und Protestfreiheit erreicht. Außerdem hat die marokkanische Regierung zehn Jahre vor Ausbruch der arabischen Revolutionen umfassende ökonomische und entwicklungspolitische Initiativen eingeleitet. Sie förderte das Einkommen von mehr als neun Millionen Personen, vor allem sozialer Randgruppen. Ebenso kümmerte sich der Staat um die Nahrungssicherheit der Bürger, auch um Arbeitsplätze in ländlichen Gegenden. Hinzu kamen Investitionen in den Tourismus und der Ausbau der Infrastruktur. Außerdem hat Marokko seit 2011 eine neue Verfassung. Sie gilt als eine der fortschrittlichsten in der arabischen Welt. Es schmerzt mich aber, dass marokkanische Landwirtschaftsprodukte auf dem europäischen Markt aufgrund der Handelsinteressen europäischer Agrarlobbyisten benachteiligt werden.

Die Terrororganisation „Islamischer Staat" (IS) ist mittlerweile auch im Maghreb, vor allem in Libyen präsent. Was macht den radikalen Islam für manche Araber so attraktiv?

Der Islam ist das größte Opfer des IS. Einfach darum, weil er als Vorwand für alle Verbrechen dient, die der IS, Al-Kaida und andere Terrororganisationen begehen. All dies hat mit Religion und Religiosität nichts zu tun. Es ist Ausdruck der historischen Depression, in der sich die arabische Welt seit Beginn des Kolonialismus und seit der Vertreibung der Palästinenser befindet. Auch der Golfkrieg und die Demontage des Irak gelten vielen Arabern als Beleg dafür, dass der Westen eine Politik der doppelten Standards betreibt und seine Interessen über alles andere stellt. Dieser Westen stützte auch korrupte Regime, die Regionen verarmen und Ignoranz wachsen ließen. Das wiederum verfestigte die Abwesenheit von Bildung und Kultur. All dies kehrt nun wie ein Bumerang auf den Westen zurück.

In Europa leben die Kinder und Enkel der Auswanderer mit einer gespalteten Identität. Sie kennen weder die Fundamente der islamischen Religion noch der arabischen Grammatik. Dennoch sehen sie in dieser Religion eine Rechtfertigung für ihre Gewalt und ihren Hass auf die Gesellschaften des Westens – die es nicht für nötig erachteten, die jungen Menschen zu integrieren.

Damit will ich nicht den Terrorismus rechtfertigen, sondern seine Ursachen erläutern. In Marokko und den anderen arabischen Ländern müssen wir uns gegen Obskurantismus und Nihilismus engagieren sowie Armut und Marginalisierung bekämpfen. Auch müssen wir uns für eine wissenschaftliche Koranlektüre einsetzen, die sich falschen und extremistischen Lesarten entgegenstellt.

„Zuerst die Dichtung, dann der Journalismus“ – so haben Sie ihre Arbeit beschrieben. Was treibt Sie als Dichter?

Shoshana Liessmann, Klaus-Dieter Lehmann, Donata Kinzelbach und Yassin Adnan auf der Leipziger Buchmesse Shoshana Liessmann, Klaus-Dieter Lehmann, Donata Kinzelbach und Yassin Adnan auf der Leipziger Buchmesse | Foto: Andreas Wünschirs
Dichtung und Poesie geben dem Individuum eine Stimme, sie artikulieren seine Unsicherheit, seine Zweifel und sein Misstrauen. Auf diese Weise steht Dichtung Extremismus entgegen, der absolute Selbstgewissheit inszeniert. Ebenso ist sie ein Gegengewicht zu den Medien und ihren Verallgemeinerungen, Klischees und Stereotypen. Wir alle, die wir uns in der arabischen Welt mit Dichtung und Literatur befassen, führen einen doppelten Kampf: Zum einen streiten wir für den Einzelnen und seine Zerbrechlichkeit, aber auch für sein Recht auf Freiheit, Träume und sogar auf den Irrtum. Zum anderen versuchen wir durch unsere Bücher zu verhindern – so sie denn in fremde Sprachen übersetzt werden –, dass Menschlichkeit und staatsbürgerliche Identität der Araber in den internationalen Medien immer wieder auf den Terrorismus reduziert werden.

In Ihrem Buch „Le Livre du passage“ schreiben sie von einem „poète voyageur“, einem „wandernden Dichter“. Wovon lassen Sie sich bei diesem Bild leiten?

Ich liebe es, zu reisen. In dem „Heft des Übergangs“, einem Langgedicht von über 200 Seiten habe ich die freie Bewegung meines Körper und Geistes zwischen den internationalen Hauptstädten, Flughäfen, Bahnhöfen, Cafés und Bars in Spanien, Frankreich, Belgien, Deutschland, Österreich, Skandinavien und Amerika beschrieben. Das Gedicht ist eine Art Spaziergang ohne Schranken, ein potenziell unendlicher Dialog. Über 30 Seiten des Gedichtes habe ich in Deutschland geschrieben: in Berlin, Bayern und Frankfurt. Während der Arbeit stand mir Hölderlin näher als jeder arabische Dichter.

Sie haben nun Ihren ersten Roman vorgelegt, „Hot Maroc". Worum geht es?

Der Roman handelt von Marokko und den Veränderungen, die das Land durchlebt. Es geht um Marrakesch und die Veränderungen der Stadt, etwa der Entschluss, die Bäume und Pflanzen der Stadterneuerung zu opfern. Es geht um die Universität und die studentische Mobilität. Um den Verfall der Debattenkultur im Internet und das Abtrennen digitaler Verbindungen. Protagonist des Romans ist Rahal Laouina, ein bis zur Feigheit schüchterner jungen Mann, der andere nur aus der Anonymität des Internets heraus attackiert.

Ich habe den Figuren tierische Züge verliehen. Jeder Protagonist hat Charakterzüge, die sonst einem Tier zugeschrieben sind. Es ist eine „tierische Komödie“, deren Helden aber Menschen aus Fleisch und Blut mit echten Gefühlen sind. Es ist auch eine „elektronische Komödie“, da ein Teil der Abenteuer und Ereignisse im World Wide Web spielt, hauptsächlich auf Facebook.

Hot Maroc ist ein zeitgenössischer Roman der auch das soziale Umfeld beobachtet und sich auf künstlerische Weise mit dessen Problemen auseinandersetzt. Es ist ein urbaner Roman über Marrakesch, in dem sich lokale und internationale Traditionen mischen. Gezeigt wird das Marrakesch der Mittelklasse, Menschen also, die mit der Altstadt und dem touristischen Zentrum nichts zu tun haben. Der Roman zeigt aber auch das Marrakesch der Elendsviertel, die sich Tag um Tag erweitern. Er handelt von einer Stadt, in die Jahr für Jahr neue Menschen strömen und in der das Leben immer schwieriger wird.

Die Fragen stellte Kersten Knipp. Er ist Journalist und Autor und schreibt seit 15 Jahren über internationale Politik und Kultur, hauptsächlich aus der Welt zwischen arabischer Halbinsel und dem Maghreb.

Autor

Die Fragen stellte Kersten Knipp. Er ist Journalist und Autor und schreibt seit 15 Jahren über internationale Politik und Kultur, hauptsächlich aus der Welt zwischen arabischer Halbinsel und dem Maghreb.

März 2016