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Der Wolf als Retter des Märchens

Ein Spielverderber kann ärgerlich, aber manchmal auch ganz nützlich sein. Jedes Kind hat das schon erlebt. Einer in der Runde hält sich nicht an seine vorgegebene Rolle, und plötzlich wird alles in Frage gestellt. In Sebastian Meschenmosers neuem Bilderbuch „Rotkäppchen hat keine Lust", ist es gleich die Titelheldin, die die Mitarbeit aufkündigt. Dem Kind graust es nicht vor dem Marsch durch den Wald, sondern vor der Langeweile, die es befallen wird, wenn es bei der Großmutter Fotoalben anschauen muss und dazu die Jugenderinnerungen der Oma aufgetischt bekommt.

Man sieht an seinem entschlossenen Schritt und dem missmutigen Blick, dass der Zorn schon gehörig im Rotkäppchen arbeitet. Für die Angst vor dem Wolf bleibt da gar kein Platz. Das Ungeheuer ist denn auch einigermaßen überrascht über die Tatsache, dass diesmal alles anders läuft, als es das Märchen der Brüder Grimm vorgibt. So beginnt der Wolf, die Sache selbst in die Hand zu nehmen, nachdem er erschrocken feststellen musste, dass das Kind in seinem Proviantkorb nur einen Ziegelstein, eine Socke und einen Kaugummi trägt. Was tun, um die Geschichte ihrer Bestimmung zuzuführen? Er backt selbst den Geburtstagskuchen und pflückt für die Oma die Blumen am Waldrand.

Schnell deutet sich an, dass hier der Wolf der Star der Geschichte ist. Auf jeder Seite zeigt Meschenmoser ihn mit anderer Gestik, die in der Summe dann eine Ahnung von seinem nuancenreichen Innenleben gibt. Ja, der Wolf wird zum Spiegel der Emotionen. Neugierde, Überraschung, Freude und Erwartung kann man Bild für Bild in seiner Mimik ablesen. Auf eindrucksvolle Weise gelingt es Sebastian Meschenmoser, immer wieder menschliche Attribute in die Physiognomie des Tieres einzuarbeiten.

Die Rollen des Märchens werden neu definiert. Rotkäppchen ist kein ängstliches Wesen, seine kräftigen roten Wangen, die dicken Zöpfe und der unversöhnliche Blick zeigen, dass mit diesem Mädchen nicht gut Kirschen essen ist. Nikolaus Heidelbach hatte uns in seiner Ausgabe der Grimmschen Märchen bereits ein ganz ähnliches Rotkäppchen präsentiert. Für Meschenmoser stellt der Wolf das kindlichere Wesen dar, das verraten uns seine erwartungsvollen Spielaugen, wenn er das Mädchen sieht, während Rotkäppchen mit seinem breitbeinigen Gang wie ein selbstbewusster Erwachsener auftritt. Zwar wird die Geschichte in sich geschlossen erzählt – aus dem Wolf und der Großmutter geht letztlich eine Art Liebespaar hervor – aber wenn die Kinder das Original kennen, werden sie noch mehr Freude an diesem Buch haben.

Meschenmoser illustriert die Hintergründe mit einer wohltuend zarten Aquarellierung, in der alleine die Rottöne Akzente setzen, und er besticht durch seinen figürlichen Realismus. Da sein Buch die Aufforderung enthält, bekannte Märchenpfade zu verlassen, drängt sich die Frage auf, ob vielleicht alles auch ganz anders erzählt werden könnte. Meschenmosers provokantes Bilderbuch will den Lesern Mut machen, in dem es ihnen sagt, man darf das Bekannte benutzen, um mit ihm zu spielen und es weiterzuentwickeln. So kommt dem launischen Rotkäppchen als Spielverderberin die Aufgabe zu, das Märchen neu zu betrachten. Ein heutiges Kind macht eben andere Erfahrungen mit seiner Großmutter als ein Kind des 19. Jahrhunderts, und diese Frustrationen wollen auch einmal beim Namen genannt werden. So kann diese "Sabotage" am Rotkäppchen-Mythos wieder die Lust auf die Lektüre der Märchen entzünden.
Buchcover Rotkäppchen hat keine Lust

Von Thomas Linden

​Thomas Linden arbeitet als Journalist (Kölnische Rundschau, WWW.CHOICES.DE) in den Bereichen Literatur, Theater und Film und konzipiert als Kurator Ausstellungen zur Fotografie und zur Bilderbuchillustration.