Melinda Nadj Abonji Schildkrötensoldat
- Suhrkamp Verlag
- Berlin 2017
- ISBN 978-3-518-42759-0
- 173 Seiten
- Verlagskontakt
Melinda Nadj Abonji
Schildkrötensoldat
Dieses Buch wurde vorgestellt im Rahmen des Schwerpunkts Arabisch II (2015 - 2018).
Poesie des sanften Widerstands
Auch dieser Roman spielt in der Herkunftsregion Melinda Nadj Abonjis, in der Vielvölker-Provinz Vojvodina, und er führt zurück ins Jahr des Kriegsausbruchs 1991. Zoltán Kertész, genannt Zoli, Sohn eines Halbzigeuners und einer Tagelöhnerin, ist auf dem Land unter ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen. Er gilt als geistig zurückgeblieben; in Wahrheit ist er ein ungewöhnlich sensibler Außenseiter, ein fantasiebegabter Träumer, der weder in das grobschlächtige Dorfmilieu passt noch in sein tristes, von Alkohol und Perspektivlosigkeit zerrüttetes Elternhaus.
Am liebsten hält er sich im Garten auf, redet mit Bäumen und Blumen und mit seinem Hund Tango. Die unbegreifliche Welt ordnet er für sich, indem er Kreuzworträtsel erfindet, Wörter in ihre Bestandteile auflöst. Und es verbindet ihn eine zarte Freundschaft mit seiner in die Schweiz ausgewanderten Cousine Hanna, in der wir das Alter Ego der Autorin erkennen. Nach Zolis frühem Tod reist sie nach Serbien und erforscht die Hintergründe des traurigen Geschehens. Ihre Erzählstimme begleitet und spiegelt die des Protagonisten, der sich seiner Behinderung, seiner Andersartigkeit vollkommen bewusst ist und in einer eigenwillig poetischen, oft ans Surreale rührenden Sprache aus seinem Leben berichtet.
Seit der Bäcker, bei dem er arbeitete, ihn halbtot geprügelt hat, leidet der Junge an Epilepsie-Symptomen und scheint zu nichts mehr zu taugen. Seine Eltern, so unwissend wie hilflos, wollen einen „richtigen Mann" aus ihm machen und zwingen ihn zum Eintritt in die Armee. Dort versucht er, sich gleich einer Schildkröte durch Verzögerung und Rückzug zu retten. Aber ein sanftmütiger Sonderling und reiner Tor wie er muss an der Brutalität der militärischen Maschinerie, an ihren Schikanen und Erniedrigungen zugrunde gehen. Nachdem sein einziger Freund Jenö beim gnadenlosen Drill ums Leben gekommen ist, bricht Zoli zusammen, wird als unheilbar verrückt aus der Armee entlassen und stirbt kurz darauf bei einem epileptischen Anfall.
Melinda Abonji zeigt die Rückseite und die innere Struktur der Gewalt, die an der Front ihr zerstörerisches Werk verrichtet. Doch sie zeigt auch, dass das Betriebssystem aller Kriege, die dumpfe Routine von Macht und Unterwerfung, Befehl und Gehorsam, unterlaufen werden kann durch sprachschöpferischen Eigensinn und eine widerständige Fantasie. Zwar findet der Rebell mit dem Kindergemüt ein tragisches Ende, aber die Autorin, die auch Musikerin ist, hat ihm eine Stimme und eine eigens für ihn komponierte Sprache verliehen (für Übersetzer eine schöne Herausforderung) und damit allen Unangepassten und Abweichlern dieser Welt ein Denkmal gesetzt. Zugleich ist die berührende Erzählung ein Monument für ein zerfallenes Land und eine verlorene Heimat.

Von Kristina Maidt-Zinke
Kristina Maidt-Zinke ist Literatur- und Musikkritikerin der Süddeutschen Zeitung und rezensiert für Die Zeit.
Inhaltsangabe des Verlags
Zoltán Kertész, blauäugiger Sohn eines »Halbzigeuners« und einer Tagelöhnerin mit ständig wechselnden Liebhabern, ist der Außenseiter in einem kleinen Ort in Serbien. Als Kind ist er dem Vater in voller Fahrt vom Motorrad gefallen, und der Bäcker, dem er die Mehlsäcke nicht schnell genug durch die Backstube schleppte, hat ihm den Kopf blutig geschlagen. Seither hat Zoltán das »Schläfenflattern«, sitzt am liebsten in seiner Scheune und löst Kreuzworträtsel.
Als 1991 der jugoslawische Bürgerkrieg ausbricht, sehen das die Eltern als Chance für den Sohn: In der Volksarmee in Zrjenanin soll der »Taugenichts«, der »Idiot« zuerst zum Mann und dann zum Helden werden. Aber Zoltán passt auch dort nicht ins System, stellt die falschen Fragen und die auch noch stotternd. Als sein einziger Freund Jenő bei einem Trainingsmarsch in der Folge sinnloser Schleiferei tot zusammenbricht, verweigert sich Zoltán endgültig einer Ordnung, die alle Macht dem Stärkeren zugesteht.
Vom sanften Widerstand der Phantasie gegen die Beschränkungen eines Systems, das nur Befehl, Gehorsam und Unterwerfung kennt, erzählt Melinda Nadj Abonji in ihrem Roman Schildkrötensoldat – in einer schwingenden, musikalischen Sprache und in eindringlichen, die Kraft des vogelwilden Denkens beschwörenden Bildern.
(Text: Suhrkamp Verlag)