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Der überaus freundliche Zauberschrank. „Die Tür bleibt zu!“ - Ein pfiffiges Bilderbuch von Sabine Ludwig und Isabel Kreitz

Warum fällt dem Rezensenten beim ersten Blick auf ein zauberhaftes Utensil in der Bildergeschichte „Die Tür bleibt zu!“ sofort der Kleiderschrank aus frühesten Kindertagen ein?
 
Dessen tiefdunkelrotbraune Türmaserung drohte einen förmlich in ein unbekanntes, furchterregendes Universum hineinzuziehen. Immer wenn ich kleiner Steppke von vier, fünf Jahren nicht einschlafen konnte, knipste ich das Nachttischlämpchen an und starrte auf das magische Muster, bis es mich verschlang und mich in der Welt meiner Träume wieder ausspuckte. Die Mutter fand ein scheinbar friedlich schlummerndes Kind vor und löschte das Licht.
 
Und jetzt, ein paar Jährchen später, treffe ich in dieser Bildergeschichte von Sabine Ludwig und Isabel Kreitz den kleinen Oskar. Oskar ist ein Katerchen, mit dem sich die ganz Jungen aber auch die Junggebliebenen sofort identifizieren können. Ein bisschen schmusig. Ein bisschen wild. Ein bisschen widerspenstig. Ein bisschen träumerisch. Ein bisschen eigensinnig. Die Comickünstlerin Isabel Kreitz hat Oskar und das gesamte Interieur der Geschichte bunt und hell und fröhlich ins Bild gesetzt, mit sicherem Blick für das Wesentliche. Nichts wirkt mit Farben und Stimmungen überfrachtet. Und im passenden weißen Leerraum der Bildflächen erscheinen die kurzen, auf den Punkt gebrachten Sätze der Erzählerin Sabine Ludwig. „Immer, wenn Papa und Mama abends Besuch haben, muss Oskar ins Bett ...“ Dass Oskar gerade dann noch tausend Sachen einfallen, die seinem Wohlergehen dienen könnten, kommt einem irgendwie bekannt vor. Nur ein Glas Wasser auf dem Nachttisch? Diese Ignoranten von Eltern! Kakao! Kuchen, bitteschön! - Aber was tun, wenn die Erziehungsberechtigten da draußen aufs Getappse und Gemaule nur mit den Worten reagieren: „Die Tür bleibt zu!“?
 
Hier beginnt der riesige Erfahrungsunterschied eines inzwischen gealterten Katers gegenüber den Kätzchen der jungen Generation. Während wir Alten als Kinder ängstlich auf die rätselhaften Muster der Schlafzimmerschranktür starrten, sind die Katzen- beziehungsweise Menschenkinder  von heute erheblich couragierter. Oskars lila Schranktür ziert ein riesengroßer Oktopus, der den Kleinen nicht die Bohne ängstigt. Deshalb scheint es für das putzmuntere Katerkind selbstverständlich, wenn sich nach entsprechender Aufforderung („Kakao!“, „Kuchen!“, „Sauber machen!“, „Musik!“) die Tintenfischschranktür öffnet und das entsprechende Dienstpersonal der Reihe nach Oskars Wünsche erfüllt (die vier Diener haben eine verblüffende Ähnlichkeit mit den Gästen). Wenn Oskar und seine Knuddelmonster satt sind, die Putzfee die Kuchenkrümel weggestaubsaugt hat, die letzten Sehnsuchtstöne des beorderten Banjospielers und seiner Backgroundsängerinnen im Schrank verklungen sind, dann wird Oskar zufrieden einschlummern. Wo? Das wir hier nicht verraten.
 
Bei aller Sympathie für die Eltern, die so oder ähnlich überall auf diesem Planeten leben könnten und sich – frei von erzieherischen Verpflichtungen – endlich einmal einen vergnüglichen Abend mit Freunden gönnen wollen: Die Solidarität der Betrachter dieser liebenswerten und pfiffigen Bildergeschichte wird wohl uneingeschränkt dem kleinen Kater gelten – dem kleinen Oskar in der Geschichte und dem kleinen Oskar in uns Erwachsenen, der sich immer einen solch überaus freundlichen Zauberschrank gewünscht hat.
 
Buchcover Die Tür bleibt zu!

Von Siggi Seuß

​Siggi Seuß, freier Journalist, Hörfunkautor und Übersetzer, schreibt seit vielen Jahren Kinder- und Jugendbuchkritiken.