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Wunderwesen der Meere

Sie sind überall, je hartnäckiger man hinschaut, desto williger wachsen sie einem entgegen: so beschreibt die Literaturkritikerin und Kulturwissenschaftlerin Jutta Person ihre Begegnung mit den Korallen. Von den vielgestaltigen Unterwasserwesen ist heute meist im Zusammenhang mit der Klimaerwärmung die Rede, die ihre Existenz bedroht. Jutta Person hat hartnäckig hingeschaut und in Geschichte, Kunst und Literatur ebenso wie unter Wasser noch viele andere Perspektiven gefunden. In ihrem Portrait zeichnet sie so lebendig wie poetisch nach, wie lange diese wundersamen Tiere die Menschen schon faszinieren, und macht damit umso deutlicher, welchen Schatz wir (noch) an ihnen haben.

Korallen leben in den lichten Zonen der Meere und sind damit relativ leicht zu erreichen. Die Autorin nähert sich ihnen zuerst in vorsichtigen Schnorchelgängen, doch die Welt der Korallen zieht sie schnell in ihren Bann. Sie lernt tauchen und findet unter Wasser einen fremden Kosmos, in dem es „gründelt, wiegt und tentakelt … ohne das geringste Interesse am Menschen“. Einen Kosmos, in dem es lebendig, „und zwar tierisch lebendig“ zugeht, in dem die Korallen sich erkennbar selbstgesteuert bewegen, statt sich nur in der Strömung zu wiegen.

Diese Welt wird auch dadurch nicht weniger exotisch, dass der Mensch, das Vokabular seiner Lebenswelt unter Wasser transportiert und dort Hirn-, Himbeer-, Salat-, Elchgeweih- und Orgelkorallen, die Tote Mannshand und das Broccoli-Bäumchen findet. Die schönsten von ihnen bekommen im Anhang ein eigenes Portrait.

Tatsächlich sollte es bis zu den Arbeiten des Naturforschers Jean-André Peyssonnel im 18. Jahrhundert dauern, bis die Korallen überhaupt als Tiere erkannt wurden, erklärt die Autorin in einem Ausflug in die Naturgeschichte. Heute ordnen Forscher die Korallen wie die Quallen den Nesseltieren zu. Sie bestehen aus zahlreichen Polypen, die Strukturen aus Kalk bilden, in oder auf denen sie leben und sich von Plankton oder kleinen Fischen ernähren, die sie mit Giftpfeilen aus ihren Nesselzellen jagen. Bei riffbildenden Korallen siedelt jede neue Generation auf den Überresten der vorigen, wodurch im Laufe zehntausender Jahre ganze Inseln entstehen. Selbst der eher nüchterne Darwin kam bei der Beschreibung seiner Einsichten über die erdverändernde Kraft dieser Korallen ins Schwärmen.

Doch die Menschen begeisterten sich noch viel früher für die Korallen, konstatiert die Autorin, als sie von der Natur- in die Kulturgeschichte wechselt. Schmuck aus den leuchtend roten Edelkorallen wurde schon in der Eisenzeit bis über die Alpen verkauft, im alten Ägypten gab man ihn den Verstorbenen als magischen Schutz mit ins Grab. Und je länger die Autorin sucht, desto häufiger findet sie die typischen roten Perlenketten oder ganze Äste von Korallen auf Gemälden und Vasen, in Kirchen und den Wunderkammern früher Gelehrter, als Amulette, selbst als Schnuller und gehäkeltes Kunstwerk.

Jutta Person folgt den Korallen durch Dichtung und Literatur und wird bei Ovid und Plinius ebenso fündig wie bei Shakespeare, Jules Verne und Karl Marx. Immer wieder fasziniert die unterschiedlichsten Autoren, was durch die Kooperation vieler winziger Tiere entstehen kann. Marx nimmt die zahllosen riffbildenden Korallen gleich als Analogie für die Arbeitermassen der frühen Industriegesellschaft. Und auch das Bürgertum entdeckte die Korallen zeitgleich: als Schmuckstücke im Aquarium.

Natürlich kann dieses liebevoll illustrierte, korallenrote Werk nicht ohne einen eher düsteren Blick auf die Auswirkungen von Klimawandel, Überfischung und Tourismus auf die Korallen enden. Doch wie viele andere vor ihr, findet auch Jutta Person bei den Korallen ein Rezept für die Probleme der Gegenwart: Man möge Vereinfachungen vergessen und Verzweigungen erfinden.
Buchcover Korallen. Ein Portrait

Von Manuela Lenzen

Manuela Lenzen ist freie Wissenschaftsjournalistin und schreibt vor allem über die Themen Evolution, Kognition und Künstliche Intelligenz.