Deniz Ohde Streulicht
- Suhrkamp Verlag
- Berlin 2020
- ISBN 978-3-518-42963-1
- 288 Seiten
- Verlagskontakt
Deniz Ohde
Streulicht
Polnische Rechte bereits vergeben
Die gar nicht feinen Unterschiede. Deniz Ohdes bemerkenswertes Romandebüt über die deutsche Klassengesellschaft
Es sickert in das Mädchen ein, wie die Luft, die es umgibt: Mit seinem ungewöhnlichen Vornamen, der ausländischen Mutter und dem deutschen Arbeitervater ist es weniger wert als andere. Es wird geschurigelt, ermahnt, abgestempelt und schließlich verdrängt. Der Vater, der nichts wegwerfen kann und alle Ängste im Suff erstickt, empfiehlt seiner Tochter äußerste Anpassung. Er selbst macht sich unsichtbar in dem Ort am Industriepark, wo er seit dreißig Jahren Aluminiumbleche in eine Beize taucht. „Das ist nix für mich“ und „Das brauchen wir nicht“ sind Standardsätze, mit denen er seine Familie in Schach hält. Das Aufmüpfige der Mutter, die als Jugendliche immerhin aus ihrem Dorf an der Schwarzmeerküste weggelaufen war, scheint erschöpft. Das Gleichgewicht des Haushalts, in dem es nicht einmal gemeinsame Mahlzeiten gibt und das Fernsehen den Tagesrhythmus skandiert, ist prekär. Und über alles wird geschwiegen.
Es sind diese Prozesse, die Deniz Ohde in ihrem Debüt so eindrucksvoll vermittelt. Der Titel Streulicht ist inspiriert von den Abstrahlungen der Industrieanlagen, in deren Nachbarschaft sich das Heranwachsen der Ich-Erzählerin abspielt. Und genauso feinstofflich, wie sich das diffuse Licht und die schwere, saure Luft der Umgebung verbreiten, verlaufen auch die Mechanismen der Ausgrenzung. Ohde arbeitet mit einer Rahmenhandlung: Die mittlerweile erwachsene Heldin kehrt aus Anlass der Hochzeit ihrer Kindheitsfreunde zu ihrem verwitweten Vater zurück. Kaum kommt sie in ihrem Heimatort an, umfängt sie der markante Geruch der Fabriken. In dichten Rückblenden fächert sich dann die Geschichte ihrer Kindheit auf. Zwar bildet sie mit Pikka und Sophia eine eingeschworene Gemeinschaft, aber den Anforderungen der Lehrer kann das verschüchterte Mädchen nie genügen. Es werde jetzt „ausgesiebt“, heißt es im Gymnasium, und prompt trifft es die wehrlose Heldin. Auch ihre Eltern, die alle rassistischen Übergriffe verleugnen, sind hilflos. Und die Freunde geben ihr zu verstehen, dass ihr Platz bestimmt nicht an der Universität ist. Doch irgendetwas lässt sie fest halten am Bildungsgedanken. Sie beißt sich durch.
In einer präzisen, zupackenden Sprache nimmt Ohde ihren Schauplatz, hinter dem sich Frankfurt/ Hoechst verbirgt, in den Blick: die rauchenden Fabrikschlote, die schmutzigen Straßen mit ihren Eckkneipen und Billigläden, die aufgeräumten Vorgärten und Hobbykeller der kleinbürgerlichen Freunde und die klebrige, zugestellte Wohnung ihrer Eltern. Immer wieder umkreist sie diese beiden Figuren und leuchtet ihre Gebrochenheit aus, ohne sie zu denunzieren. Und schließlich gelingt der 1988 in Frankfurt geborenen Autorin ein Roman über ein Sujet, das in der deutschen Literatur nur selten zur Sprache kommt: die Klassengesellschaft. Zwar gab es die Aufstiegsgeschichten von Ulla Hahn, die bezwingenden Porträts einer depravierten DDR-Familie von Angelika Klüssendorf und die beklemmenden Erfahrungsberichte von Christian Baron, aber in Ohdes Roman ist von einer doppelten Diskriminierung die Rede. Das falsche soziale Milieu wird durch die türkische Herkunft der Mutter noch akzentuiert.
Deniz Ohde, ausgebildete Germanistin und heute in Leipzig zu Hause, kennt die gesellschaftlichen Verteilungskämpfe aus eigener Erfahrung. Die Autorin erzählt keine emanzipatorische Entwicklungsgeschichte, keine Spur von einem triumphalen Gestus. Wie ein Menetekel flackert die Selbstverbrennung einer Frau Mitte der 1990er Jahre durch die Handlung – das Foto mit dem verzerrten Gesicht der Toten hat sich in das Bewusstsein der Heldin eingebrannt. Ob ihr die Befreiung gelingt? Zumindest hat sie jetzt eine Stimme. Mit ihrem Roman gelingt Deniz Ohde auf beeindruckende Weise die literarische Erschließung einer viel zu unbekannten Lebenswelt.

Von Maike Albath
Maike Albath ist Literaturkritikerin und Journalistin beim Deutschlandfunk und Deutschlandfunkkultur. Sie schreibt außerdem für die Süddeutsche Zeitung. Im Berenberg Verlag liegen ihre Bücher Der Geist von Turin (2010), Rom, Träume (2013) und Trauer und Licht (2019) vor.
Inhaltsangabe des Verlags
Industrieschnee markiert die Grenzen des Orts, eine feine Säure liegt in der Luft, und hinter der Werksbrücke rauschen die Fertigungshallen, wo der Vater tagein, tagaus Aluminiumbleche beizt. Hier ist die Ich-Erzählerin aufgewachsen, hierher kommt sie zurück, als ihre Kindheitsfreunde heiraten. Und während sie die alten Wege geht, erinnert sie sich: an den Vater und den erblindeten Großvater, die kaum sprachen, die keine Veränderungen wollten und nichts wegwerfen konnten, bis der Hausrat aus allen Schränken quoll. An die Mutter, deren Freiheitsdrang in der Enge einer westdeutschen Arbeiterwohnung erstickte, ehe sie in einem kurzen Aufbegehren die Koffer packte und die Tochter beim trinkenden Vater ließ. An den frühen Schulabbruch und die Anstrengung, im zweiten Anlauf Versäumtes nachzuholen, an die Scham und die Angst – zuerst davor, nicht zu bestehen, dann davor, als Aufsteigerin auf ihren Platz zurückverwiesen zu werden.
Wahrhaftig und einfühlsam erkundet Deniz Ohde in ihrem Debütroman die feinen Unterschiede in unserer Gesellschaft. Satz für Satz spürt sie den Sollbruchstellen im Leben der Erzählerin nach, den Zuschreibungen und Erwartungen an sie als Arbeiterkind, der Kluft zwischen Bildungsversprechen und erfahrener Ungleichheit, der verinnerlichten Abwertung und dem Versuch, sich davon zu befreien.
(Text: Suhrkamp Verlag)