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Buchcover Ethik der Appropriation

Jens Balzer Ethik der Appropriation

Übersetzungsförderung
Mit Förderung von Litrix.de auf Italienisch erschienen

Lob des Fragmentarischen

Kultur ist immer schon Aneignung: In seinem Essay „Ethik der Appropriation“ plädiert Jens Balzer für eine machtkritische, ihrer selbst bewusste Aneignungspraxis

Wer als Kind begeistert „Cowboy und Indianer“ gespielt hat, in den Büchern von Karl May versunken ist und sich auf der sicheren Seite der „edlen Wilden“ glaubte, steht heute, in Zeiten gesteigerter Sprachsensibilität, vor mehr als nur einem Problem. Was lässt sich rückblickend über kindliche Sehnsüchte sagen, wenn der Ausdruck „Indianer“ unerwünscht ist und wenn Indianersehnsüchtige im Verdacht stehen, sich fremde Kulturen „anzueignen“, diese also zu bestehlen? Wie also umgehen mit den Debatten zur kulturellen Aneignung und dem Vorwurf, man schmücke sich (um im Bild zu bleiben) mit fremden Federn, wenn man Elemente anderer Kulturen übernehme?

In seinem nur 87-seitigen, sehr lesenswerten Essay „Ethik der Appropriation“ beginnt Jens Balzer mit Kafkas Prosaskizze „Wunsch, Indianer zu werden“ und der eigenen kindlichen Winnetou-Begeisterung. Kultur ist immer schon Aneignung und Umwandlung, erklärt der Autor, Journalist und Poptheoretiker. Aber es gebe Möglichkeiten, sich das Andere anders anzueignen: indem man nicht etwa auf Reinheit und Authentizität, sondern auf das Sichtbarwerden von Machtverhältnissen abziele. Es gehe darum, die aktuelle Verbotslogik durch bessere Aneignungspraktiken zu ersetzen.

In fünf Kapiteln entwickelt Balzer das Problem: Am Beispiel der heutigen Tabuisierung des Ausdrucks „Indianer“ – eine grüne Politikerin etwa musste sich für eine spontane Äußerung sogleich entschuldigen – stellt er das Ausgangs-Paradox vor. Kann man scharfe Grenzen zwischen Kulturen ziehen? Und wer würde über Zugehörigkeit oder Nicht-Zugehörigkeit bestimmen? Im Gegensatz zu einer abgekapselten, nur mit sich selbst identischen Kultur besteht Balzer auf Durchlässigkeit. Aneignung sei nicht per se Diebstahl, im Gegenteil: „Appropriation ist eine schöpferische, kulturstiftende Kraft. Aber zugleich ist sie in Gewalt und Ausbeutungsverhältnisse verstrickt. Man könnte sagen, dass dies für jede Art der Kultur gilt. Doch treten diese Verhältnisse in bestimmten Formen der Appropriation besonders deutlich zutage.“

In einem zweiten Schritt versucht der Essay, „falsche“ von „richtigen“ Aneignungen zu unterscheiden. Nach einer Zusammenfassung des „blackfacing“ und der US-amerikanischen Kultur und Musik der letzten zwei Jahrhunderte hält Balzer am Beispiel von Elvis Presley und Eminem fest: „Wieder profitierten Weiße von schwarzer Musik“. Afroamerikanische Musiker, etwa die Rapper von „Public Enemy“, kontern mit einer „Kultur der Selbstermächtigung“, die auf Polyphonie, Sampling und eine Technik der Gegen- und Wiederaneignung setzt. Hier kommt das Fragmentarische und Unauthentische zum Zug – und ein Subjekt, das sich selbst als zerrissen und dezentriert begreift.

Im dritten Kapitel, „Sampling der Identitäten“, spricht sich Balzer mit den postkolonialen Theoretikern Paul Gilroy und Édouard Glissant gegen „kulturelle Reinheit“ aus; gefragt sind stattdessen Heterogenität und das Deleuzianisch-Rhizomatische. Eine gute Appropriation wäre in diesem Sinne eine Aneignungsform, die „erfinderisch ist, die das Spiel der kulturellen Möglichkeiten erweitert“, anstatt zur Homogenität zu mahnen. Schlechte Appropriation beutet dagegen die Kultur marginalisierter Menschen aus und schreibt ihren Opferstatus fest.

Im folgenden Abschnitt stellt sich die Frage: „Wie kann man als verletzend empfundene Arten der Appropriation reflektieren und kritisieren, ohne die Begrifflichkeiten der Identität, des Eigentums und des Verbots zu benutzen?“ Im Sinne der Counter-Appropriation beim Hip-Hop hält Balzer fest, dass „richtige Appropriationen“ auf Entgrenzung und Hybridität zielen. Und er kommt auf das Indianerspiel der 1970er Jahre zurück, bei dem durch das Kostüm auch ein „ethnical drag“ möglich wurde: Jungs konnten lange Haare und Schminke ausprobieren; der androgyne Winnetou ließ geschlechtliche Transgression zu. Kurz, in Karl Mays Figur war auch ein homoerotisches Begehren angelegt. Mit Judith Butler reflektiert Balzer die queeren Maskeraden des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart, die auf Befreiung setzen, indem sie gerade nicht auf die eine, wahre Identität abzielen.

Im abschließenden fünften Kapitel fasst Balzer zusammen: Wer auf Appropriation mit Verboten reagiere, raube „der Kultur jede Beweglichkeit und jedes Leben.“ Eine Ethik der Appropriation solle sich, stattdessen an Gebote halten: „Appropriiere! Aber tue es richtig!“ Das Bewusstsein von der Ursprungslosigkeit des vermeintlich Eigenen und die kritische Reflexion von Machtverhältnissen sind die Grundpfeiler einer künftigen „Ethik der Appropriation“. Ob sich die Grenzen zwischen „richtiger“ und „falscher“ Aneignung immer so eindeutig ziehen lassen, darf man bezweifeln. Sicher ist aber: Sowohl die woke-linke Verbotslogik als auch die libertär-rechte „Man wird doch noch sagen dürfen“-Polemik wird hier so treffend wie unaufgeregt erledigt. Balzers erhellender Essay erkundet ein Gelände, das die unproduktiven Extreme „Alles ist verboten“ und „Alles ist erlaubt“ weit hinter sich lässt. Und das erinnert nicht zufällig an Kafkas Ausritt im „Wunsch, Indianer zu werden“: „Es gibt nur eine unendliche Kette von Aneignungen von Aneignungen von Aneignungen…“
 
Buchcover Ethik der Appropriation

Von Jutta Person

Jutta Person, geboren 1971 in Südbaden, studierte Germanistik, Italienistik und Philosophie in Köln und Italien und promovierte mit einer Arbeit zur Geschichte der Physiognomik im 19. Jahrhundert. Die Journalistin und Kulturwissenschaftlerin lebt in Berlin und schreibt für die Süddeutsche Zeitung, Die Zeit und Philosophie Magazin. Von 2004 bis 2007 war sie Redakteurin bei Literaturen, seit 2011 betreut sie das Ressort Bücher beim Philosophie Magazin.

(Stand: 2020)