Terézia Mora Muna oder Die Hälfte des Lebens
- Luchterhand Literaturverlag
- München 2023
- ISBN 978-3-630-87496-8
- 448 Seiten
- Verlagskontakt
Mit Förderung von Litrix.de auf Italienisch erschienen
Liebe und Gewalt
Wenige Frauen in der deutschsprachigen Literatur schreiben so treffend über Männer wie Terézia Mora: Einer Männerfigur, dem IT-Spezialisten Darius Kopp, hat sie sogar eine Romantrilogie gewidmet: „Der einzige Mann auf dem Kontinent“ (2009), „Das Ungeheuer“ (2013) und „Auf dem Seil“ (2019). Vor allem für diese Gegenwartsromane, aber auch für ihre pointierten Erzählungen, ihre Essays und Übersetzungen wurde Mora vielfach prämiert, darunter 2018 mit dem renommiertesten Literaturpreis Deutschlands, dem Georg-Büchner-Preis.
Zum ersten Mal stellt Terézia Mora, die im ungarischen Sopron aufgewachsen ist und seit 1990 in Berlin lebt, mit ihrem neuen Roman eine Frau ins Zentrum ihres Schreibens: Muna Appelius, eine Ich-Erzählerin, die man nicht mehr vergisst. Eine willensstarke, zugleich verletzliche und verletzte junge Frau, die im Laufe der Lektüre sogar zu einer engen Freundin werden kann. Zu einer Begleiterin, die der Leserin oder dem Leser sehr persönliche Fragen stellt: Wie hältst Du’s mit der großen Liebe? Mit Geschlechterrollen? Mit sexueller Gewalt?
Der Roman beginnt mit Munas wütendem Schrei im Innenhof ihres Hauses: Ihr Rad hat schon wieder einen Platten. Muna ist vor kurzem 18 Jahre alt geworden und ihre Mutter hat gerade versucht, sich das Leben zu nehmen. Die Mutter ist Schauspielerin und schwer alkoholkrank, seit Munas Vater, der arm, aber „genial“ war, an Lungenkrebs gestorben ist. Die Stadt heißt Jüris, es gibt hier die „Volksstimme“ und einen „Ratskeller“. Die DDR und mit ihr die engen Theater-, Literatur- und Künstlerkreise, in denen Muna aufgewachsen ist, gehen gerade zu Grunde.
Muna möchte schreiben, vielleicht Journalistin werden, sie bewirbt sich um Praktika unter Einsatz ihres einzigen Kapitals: ihrer Schönheit, ihrer Weiblichkeit. So hat sie es offenbar gelernt. Doch das Motto ihrer Mutter – "Dass sie dich ficken, lässt sich nicht vermeiden. Achte nur immer darauf, dass du sie ebenso fickst wie sie dich" – widert sie an. Sie sucht, mit Hölderlin gesprochen, "ein Anderes immer". Sie findet Magnus. Lehrer, Fotograf, für Muna "der schönste Mann, den ich je im Leben sehen würde".
Es ist Liebe auf den ersten Blick für sie, ein One-Night-Stand für ihn, dann ist er weg. Kurz darauf auch die kleine deutsche Republik, in der sie ganz unterschiedlich aufgewachsen sind. Muna im maroden Altbau, in dem zu viel geraucht, zu viel getrunken und zu schnell gestorben wurde. Magnus im Plattenbau, in dem Disziplin, Gehorsam, Schläge und Schweigen über die Stasi- oder Parteitreue der Eltern herrschten. "Er hat etwas Dunkles an sich", versucht Muna die Anziehungskraft von Magnus zu beschreiben. Muna selbst ist hell und verlockend wie "Marilyn" – so nennen sie die "Jungs" an der Uni. Bald spielt sie alle weiblichen Rollen: sie kann kühl, klug, aufreizend, anregend, aufregend, netzbestrumpft oder latzhosig sein, Mona Lisa Marilyn, doch sie liebt nur den einen. Sieben Jahre nach der ersten kurzen Nacht trifft sie ihn wieder.
Bis dahin hat Muna diverse Männer kennengelernt, den lässigen Literaturdozenten Bartley, den abwesenden Schriftsteller Frederic, den Tresenpoeten Arnold, den großzügigen Aria – nicht immer, und nicht immer körperlich, aber doch immer wieder wurde sie von diesen Männern missbraucht. Mit Magnus sollte es anders sein und wenn nur für "einen Tag Urlaub aus der Hölle". Erst mit ihm, so Muna, "weiß ich, dass das Leben, das ich lebe, wirklich meins ist". Sie klammert sich bis zur Selbstaufgabe an Magnus. Er beantwortet ihre Hingabe mit wachsender, systematischer Gewalt. Beide versinken, verstricken sich, ersticken schier in einer Opfer-Täter-Abhängigkeit. Mitten im akademischen Milieu der Anywheres, zwischen London, Paris, Wien und Berlin, während Muna über vergessene Autorinnen mit "Migrationshintergrund in der K.-u.-K.-Monarchie" forscht und Magnus über "Männlichkeitskonstruktionen" in der Literatur.
Nur das Schreiben rettet Muna, die – endlich getrennt von Magnus – Traumsequenzen zu Erzählungen verdichtet. Sie eröffnet einen Buchladen mit einer Freundin, findet einen Verlag für ihr Buch. Der schönste und brutalste Mann ihres Lebens hatte gefleht: "Wenn du doch nur Abstand davon nehmen könntest zu reden". Muna hatte ihm Briefe geschrieben, die im Roman als Zeugnisse der Selbstzensur durchgestrichen auftauchen. Nach und nach dämmert der Leserin, dem Leser, dass die Ich-Erzählerin Muna eine großartige Autorin ist. Im Erzählen ihrer gescheiterten, zerstörerischen Liebesgeschichte gewinnt Muna, das Gewaltopfer, volle Autonomie. Und aus der wütenden Achtzehnjährigen wird eine selbstbewusste, intime Freundin, die auch nach der letzten Seite dieses atemberaubenden Romans immer wieder mit Fragen aufkreuzt: Wie hältst Du’s mit der großen Liebe? Mit Geschlechterrollen? Mit sexueller Gewalt?

Von Natascha Freundel
Natascha Freundel ist Journalistin und Redakteurin im rbbKultur Radio. Dort plant und moderiert sie die Podcast- und Radio-Debatte „Der Zweite Gedanke“. Sie schreibt auch Literaturkritiken und moderiert regelmäßig Kulturveranstaltungen, u.a. bei den „Deutsch-israelischen Literaturtagen“.
Inhaltsangabe des Verlags
Muna liebt Magnus. Ob und wen Magnus liebt, ist schwer zu sagen. Was geschieht mit einem Leben, das man in Abhängigkeit von einem anderen führt? Muna steht vor dem Abitur, als sie Magnus kennenlernt, Französischlehrer und Fotograf. Mit ihm verbringt sie eine Nacht. Mit dem Mauerfall verschwindet er. Erst sieben Jahre später begegnen sich die beiden wieder und werden ein Paar. Muna glaubt, in der Beziehung zu Magnus ihr Zuhause gefunden zu haben. Doch schon auf der ersten gemeinsamen Reise treten Risse in der Beziehung auf. Im Laufe der Jahre nehmen Kälte, Unberechenbarkeit und Gewalt immer nur zu. Doch Muna ist nicht gewillt aufzugeben.
(Text: Luchterhand Literaturverlag)