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Buchcover Der fliegende Jakob

Philip Waechter Der fliegende Jakob

Mit Förderung von Litrix.de auf Russisch erschienen.

Buchbesprechung

​Jakob ist anders als die anderen. Anstatt mit dem Krabbeln zu beginnen, fliegt er eines Tages plötzlich aus dem Kinderwagen hinaus, hebt einfach ab. Seinen Eltern steht sprachloses Erstaunen ins Gesicht geschrieben, ihnen ist das irgendwie nicht recht, etwas zu seltsam. Doch ihnen bleibt keine Wahl, fortan fliegt ihr Sohn über den Dächern der Stadt. Nicht, dass diese Begabung keine Annehmlichkeiten mit sich brächte: kann Jakob doch ohne Leiter die schönste und dickste Kirsche aus den obersten Zweigen eines Baumes pflücken.

Als die Eltern eines Tages den Urlaub im sonnigen Süden buchen, will Jakob kein Flugticket, sondern fliegt natürlich selbst. Unterwegs schließt er sich 83 Vögeln auf dem Weg nach Afrika an, wird Teil des lustigen und genussvollen Schwarms. Gemeinsam gleiten sie über weite Landschaften, in denen sich Fuchs und Hase Gute Nacht sagen, segeln kunstvoll zwischen den Hochhäusern einer Stadt, fliegen eine Fisch-Formation für den Angler am Boden.

Doch wird diese herrliche Reise jäh unterbrochen, als eines der Vögelchen in die Fänge des berühmt-berüchtigten Vogelfängers Mörtel gerät. In dessen Haus sitzen – von ihrem Gezwitscher »konnte er einfach nicht genug kriegen« – unzählige Vögel gefangen. Jakob und seiner Vogelschar gelingt es, Herrn Mörtel zu überlisten und nicht nur den vermissten Kameraden, sondern auch alle anderen gefiederten Häftlinge zu befreien. Wie, mit welchem Trick, das soll hier nicht verraten werden. Groß ist jedenfalls die Freude bei Jakob und in der Vogelwelt.

Jakob nimmt Abschied, um seinen wartenden Eltern nachzureisen. Das Vögelchen Hubertus, der kleine, aus Mörtels Haus gerettete Afrika-Reisende, begleitet ihn, er wollte auch immer schon einmal Urlaub am Meer machen. Nach großer Wiedersehensfreude und zünftigen Strandtagen mit Baden, Limonade und langem Aufbleiben verzichten Jakob und Hubertus darauf, selbst zurückzufliegen – »schließlich ging am Montag die Schule wieder los ...«

Philip Waechter, der in Frankfurt am Main lebende, im Jahr 2004 mit dem Preis der Stiftung Buchkunst ausgezeichnete Illustrator und Autor, begleitet die eigene, prägnant und einnehmend erzählte Geschichte mit klaren und ausdrucksstarken Zeichnungen. Ihm gelingt das Kunststück, die Bilder beinahe minimalistisch auf die wesentlichen Inhalte reduziert wirken zu lassen, während sie doch zugleich detailverliebt auch dem zweiten Blick Entdecker-Pointen bieten. Raffiniert wechseln ganzseitige Tableaus und auf weißem Grund hervorstechende Einzelszenen einander ab, bis sich die Spannung der Befreiungsaktion in der doppelseitig dargestellten Freudenfeier der Vögel löst und das fröhliche, beinahe vibrierende Gewimmel den betrachterischen Höhepunkt markiert.

Waechters Stil ist dabei stets unverwechselbar: Die markant konturierten Zeichnungen bleiben in der Schwebe zwischen Cartoon und Realismus, besonders charakteristisch sind seine Figuren – immer ein wenig zerzaust, mit etwas großen Nasen, uns grundsympathisch nah … Dem Fliegenden Jakob merkt man ein zweites Waechtersches Faible an: Mit wenigen Strichen erschafft er ausdrucksstarke Tiere; hier Vögel ohne Zahl, doch ist keiner wie der andere.

Gemeinsam erzählen Bilder und Worte eine komplexe und beziehungsreiche Geschichte. Der fliegende Jakob handelt vom kindlichen Anderssein und von der liebevollen Akzeptanz dieser Abweichung durch die Eltern. So öffnet sich ein freier Raum für die handelnde, mutige Autonomie des Helden. Das Buch erzählt von Freundschaft und der Freude an dem, was man nicht besitzen kann. Unsere Gesellschaft, die in vielerlei Hinsicht normiert und vereinnahmt, unfrei auf das Haben statt auf das Sein fixiert ist, sollte unbedingt mehr wundervolle Bücher wie dieses von Philip Waechter geschenkt bekommen – und natürlich ihren Kindern vorlesen.        

Von Michael Sellhoff

​Michael Selhoff arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Philosophischen Seminar der CAU Kiel und ist freiberuflicher Lektor.