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Buchcover Der Fotograf von Auschwitz. Das Leben des Wilhelm Brasse

Reiner Engelmann Der Fotograf von Auschwitz. Das Leben des Wilhelm Brasse

Reiner Engelmann
Der Fotograf von Auschwitz. Das Leben des Wilhelm Brasse

Mit Förderung von Litrix.de auf Arabisch erschienen.

Bilder des Grauens. Reiner Engelmanns Biographie des Auschwitz-Fotografen Wilhelm Brasse

Im Sommer 1940 macht sich Wilhelm Brasse aus seiner polnischen Heimatstadt Zywiec auf in Richtung Frankreich, um sich dort dem Widerstand gegen Nazi-Deutschland anzuschließen. Kurz vor der ungarischen Grenze wird der damals 22-Jährige verhaftet. Ein SS-Mann bietet ihm die Entlassung an – unter einer Bedingung:  Brasse, Sohn einer Polin und eines Österreichers, möge sich zu seiner "volksdeutschen Abstammung" bekennen. Brasse weigert sich, die polnische Staatsbürgerschaft aufzugeben, und kommt als "Häftling Nummer 3444" nach Auschwitz. Höchstens drei Monate würde ein Gefangener hier überleben, verkündet ein SS-Mann bei seiner "Begrüßungsrede" den Neuankömmlingen im Lager.
 
Dazu, dass Brasse weitaus länger durchhielt, trugen – von einer enormen Portion Glück abgesehen – seine Fähigkeiten im Umgang mit der Kamera bei. Ein halbes Jahr nach seiner Inhaftierung wurde der ausgebildete Porträtfotograf zum sogenannten Erkennungsdienst des Lagers abkommandiert. Fortan bestand seine Hauptaufgabe darin, andere Häftlinge für die Kartei abzulichten – drei Bilder pro Person: von der Seite, frontal, im Halbprofil mit Kopfbedeckung. Manchmal porträtierte Brasse mehr als 100 Personen pro Tag. Insgesamt müssen es an die 70.000 Menschen gewesen sein. Für die allermeisten war es das letzte Foto ihres Lebens.
 
Reiner Engelmann, der Brasse kurz vor seinem Tod im Oktober 2012 noch ausführlich interviewen konnte, hat die Geschichte des "Fotografen von Auschwitz" in einem kleinen, aber bemerkenswerten Buch aufgeschrieben. In 33 Kurzkapiteln wird ein Panorama der Unmenschlichkeiten aufgefächert, das gerade deswegen eine starke Beklemmung hervorruft, weil Engelmann seine Schilderung vollkommen frei hält von Pathos oder falscher Sentimentalität. Aus der ebenso sachlich wie einfühlsam rekonstruierten Zeitzeugenperspektive werden die lebensbedrohlichen Zumutungen des Lageralltags geschildert, die Willkür und Brutalität der Aufseher wird ebenso veranschaulicht wie der menschenverachtende Zynismus der Lagerärzte. So traten neben den Neu-Inhaftierten auch jene vor Brasses Kamera, an denen die Nationalsozialisten ihre "medizinischen Forschungen" durchführten.  Sadisten im weißen Kittel wie Josef Mengele und Carl Clauberg ließen im Fotoatelier des Lagers ihre "Rassenuntersuchungen", Hungerexperimente und Sterilisationsmassaker dokumentieren. 
 
Brasse wusste bereits damals sehr genau, dass er durch die Linse nur einen Bruchteil der Verbrechen zu sehen bekam, die allein im sogenannten Stammlager Auschwitz (Auschwitz I), wo er inhaftiert war, verübt wurden – vom eigentlichen Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau ganz zu schweigen. In der zweiten Jahreshälfte 1941 schien die Grausamkeit allerdings eine neue Dimension zu erreichen: Plötzlich sah man SS-Männer mit Gasmasken im Stammlager umher laufen. Gerüchte machten sich breit, denen zufolge Menschen nun massenweise und systematisch mit Zyklon B vergiftet wurden –  bisher wurden die Opfer in der Regel erhängt, totgeprügelt oder erschossen. Irgendwann erteilte Brasses Vorgesetzter Ernst Hofmann im Fotoatelier den Befehl: "Brasse, ab heute wirst du keine Juden mehr fotografieren. Das hat keinen Sinn, die sterben sowieso."
 
Gewissermaßen nebenbei, ohne Hang zur unangemessenen Heroisierung, skizziert Engelmann das Charakterbild des Porträtisten Brasse: Er musste seine Fähigkeiten als Fotograf in den Dienst der Nationalsozialisten stellen, um zu überleben. Sein moralischer Kompass blieb jedoch intakt. Wann immer es ging, versuchte er seinen Mithäftlingen zu helfen. Dennoch übermannte auch ihn das Gefühl der Ohnmacht.
 
In einem entscheidenden Moment allerdings hat Brasse den Gehorsam verweigert: Im Januar 1945, als der Kanonendonner der Roten Armee näher rückte, wandte sich der Leiter des Erkennungsdienstes, Obersturmführer Bernhard Walter, an den Fotografen: "Brasse, der Iwan kommt." Alle Dokumente und Aufnahmen sollten umgehend vernichtet werden. Zunächst warf Brasse tatsächlich das gesamte Material in den Ofen. Kaum war Walter verschwunden, zog er alles wieder heraus. Fast 40.000 seiner Bilder sind der Nachwelt als Dokumente gegen das Vergessen erhalten geblieben.
 
In Engelmanns Buch finden sich nur wenige der Fotografien Brasses. Durch die knappen, schnörkellosen Sätze entstehen die Bilder des Grauens im Kopf des Lesers.
Buchcover Der Fotograf von Auschwitz. Das Leben des Wilhelm Brasse

Von Marianna Lieder

​Marianna Lieder ist seit 2011 Redakteurin beim „Philosophie Magazin“. Als freie Journalistin und Literaturkritikerin arbeitet sie u. a. für den Tagesspiegel, die Stuttgarter Zeitung und Literaturen.