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BÜCHERWELT
Die Deutschen suchen nach ihrer Identität, die Demokratie fürchtet um ihre Zukunft.

van Rahden, Münkler, Lessenich
© Campus, © Rowohlt, © Reclam

Die Büchersaison startet in diesem Frühjahr etwas nervös. Wie auch schon in den Jahren davor hängt das mit den intellektuellen Großbaustellen des neuen Jahrtausends zusammen: Demokratieverdruss, Rechtspopulismus, Digitalisierungsschrecken. Auch die Sachbuchautoren haben ihren Anteil daran, die massiven Verschiebungen des moralisch-ethischen Konsens’ der alten Bundesrepublik zu erörtern. So wenden sich zahlreiche Bücher dem Sorgenkind Demokratie zu. Ob in Brexit-England oder in Trump-Amerika, ob im Orban-Ungarn oder in Deutschland, wo die Akzeptanz einer offen rassistischen Partei zunimmt: Das ruft Sozialwissenschaftler, Historiker und Philosophen auf den Plan. Den Anfang macht Till van Rahden, der in „Demokratie. Eine gefährdete Lebensform“ (Campus) von der schwierigen Demokratiewerdung Westdeutschlands nach 1945 erzählt.

Gümüsay, Guerot, Fouroutan © Hanser Berlin, © Steidl/ifa, © transcript


Mehrere Bücher beschäftigen sich Ende 2019 / Anfang 2020 mit der heutigen Situation. Herfried und Marina Münkler schreiben mit „Abschied vom Abstieg. Eine Agenda für Deutschland“ (Rowohlt Berlin) gegen das Armutsphantasma der Deutschen als Einfallstor für Populisten an. Stephan Lessenich plädiert in seinem Buch „Grenzen der Demokratie. Teilhabe als Verteilungsproblem“ (Reclam) für eine radikale Ausweitung von Bürgerrechten auch auf Menschen mit Flüchtlingsstatus. Ulrike Guérot versucht in ihrem Debattenbuch „Was ist die Nation?“ (Steidl) auch all jene von der Idee der Vereinigten Staaten von Europa zu überzeugen, die sich nur schwer von der Nation verabschieden können. Und gerade hat Kübra Gümüsay mit „Sprache und Sein“ (Hanser Berlin) ein engagiertes Buch vorgelegt, in dem sie für einen sensibleren Gebrauch unserer Alltagssprache plädiert – vor allem im Hinblick auf Menschen nichtdeutscher Herkunft, die seit Langem hier leben oder gar in Deutschland geboren sind. Denn die ausgrenzende Macht der Sprache wird immer öfter dazu benutzt, einen Graben zwischen der Mehrheitsgesellschaft und als Minderheiten subsumierten Menschen wie „den Muslimen“ zu ziehen. Naika Foroutans Buch „Die postmigrantische Gesellschaft. Ein Versprechen der pluralen Demokratie“ (Transcript) hat eine ähnliche Stoßrichtung. Auch der Sankt Gallener Philosoph Dieter Thomä beschäftigt sich mit der Demokratie. In „Warum Demokratien Helden brauchen“ (Ullstein) liefert er eine Ideengeschichte des Heldentums für unser postheroisches Zeitalter. Auslöser dieses Buches war offenbar die Frage von Emmanuel Macron: „Warum darf es denn kein demokratisches Heldentum geben?“
 

Thomä, Wenzel, Bauer © Ullstein, © Spector, © Rowohlt



 Ein weiteres Thema, in dem sich die deutschen Sachbuchautoren ihrer Gegenwart stellen, betrifft das Jubiläum 30 Jahre Mauerfall. Bereits im vergangenen Jahr hat es eine schiere Flut von Rückblicken, Analysen und Meinungsbeiträgen gegeben, die – Flüchtlingskrise und PEGIDA im Rücken – dem Ziel dienten, nach der deutschen Identität im 21. Jahrhundert zu fragen. Nun ist der Rummel um den Mauerfall etwas abgeklungen und einige mit Sorgfalt entstandene Bücher mit Multimediaanteil wagen den Blick zurück ins Jahr des Beitritts. Zuerst zu nennen wäre der sensationelle Collageband von Jan Wenzel: In „Das Jahr 1990 freilegen“ ( Spector Books) hat er Artikel, Reden, Werbeanzeigen und Magazinfotografien zusammengetragen und arrangiert. Derart zueinander gebracht, ermöglichen diese Originaldokumente einen archäologischen Blick auf das Jahr der Einheit. Patrick Bauer liefert in „Der Traum ist aus. Aber wir werden alles geben“ (Rowohlt Berlin) noch einmal die Vorgeschichte zu 1990 als erzählende Darstellung der Demonstration vom 4. November 1989. Uta Heyder wiederum hat bereits im letzten Sommer „Born in the GDR. Angekommen in Deutschland. 30 Lebensberichte nach Tonbandprotokollen aus Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen“ (Bussert & Stadeler) veröffentlicht. Und Siegbert Schefke hat mit Videomaterial an seine Zeit als Dissident erinnert: „Als die Angst die Seite wechselte. Die Macht der verbotenen Bilder“ (Transit) handelt von zwei jungen Männern, die illegal die Montagsdemonstration in Leipzig filmen und damit die Weltgeschichte beeinflussen.

Schefke, Heyder, Vieweg © Transit, © Bussert & Stadeler, © C. H. Beck


 Zu guter Letzt feiert der deutsche Sachbuchmarkt auch noch zwei wichtige Jubiläen zum Deutschen Idealismus und ist damit wieder ganz bei sich. Und das obwohl wir in all diesen Büchern erfahren, dass auch das achtzehnte Jahrhundert aus der Sicht seiner Zeitgenossen ziemlich unübersichtlich war. Hegel findet in Klaus Vieweg („Hegel. Der Philosoph der Freiheit“, C.H. Beck) seinen ersten umfassenden Biografen. Eine weitere Hegel-Biografie ist für diesen Sommer von Jürgen Kaube („Hegels Welt“, Rowohlt Berlin) angekündigt. Und auch der Jungbiograf Sebastian Ostritsch würdigt den Systemdenker („Hegel. Der Weltphilosoph“, Propyläen). Hegels Freund Hölderlin feiert ebenfalls Geburtstag mit Büchern von Rüdiger Safranski („Komm, ins Offene! Freund“, Hanser) und Karl-Heinz Ott („Hölderlins Geister“, Hanser). Stürmische Zeiten erlebten Dichter und Denker im revolutionären Europa jener Tage. Hegel sah in Napoleon gar den Weltgeist heranreiten. Weit über das pflichtschuldige Abfeiern von Jubiläen kann ein Blick in die Vergangenheit uns also dabei helfen, die eigene Zeit zu kontextualisieren und ihren Gefahren mit aufgeklärter Kritik zu begegnen.
 

Kaube, Safranski, Ott © Rowohlt, © Hanser, © Hanser

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Katharina Teutsch ist Journalistin und Kritikerin und schreibt unter anderem für die Frankfurter Allgemeine Zeitung, die Zeit, das PhilosophieMagazin und Deutschlandradio Kultur. Sie ist Mitglied in der Jury des Leipziger Buchpreises.