Schnelleinstieg: Direkt zum Inhalt springen (Alt 1)Direkt zur Hauptnavigation springen (Alt 2)Direkt zur Sekundärnavigation springen (Alt 3)

Bücherwelt
Heftig debattiert, glänzend erzählt

Öffentliche Debatte
© pixabay
von Alexander Cammann

Eigentlich hätte Deutschland ja 2022 allmählich aus dem seltsamen pandemischen Ausnahmezustand erwachen sollen, der seit zwei Jahren alle fest im Griff hatte. Die heftigen Ausschläge in privaten und öffentlichen Diskussionen um Corona, zwischen hypernervöser Hysterie und lähmender Apathie hin und her pendelnd – endlich vorbei! Doch stattdessen kam der Krieg nach Europa, am 24. Februar, dem Tag des russischen Überfalls auf die Ukraine, und die Furcht kehrte zurück. Auch der Sachbuchmarkt reagierte rasch: Erfahrene Korrespondentinnen wie Sabine Adler („Die Ukraine und wir“, Ch. Links) und Katrin Eigendorf („Putins Krieg“, S. Fischer) berichteten aus erster Hand über den Krieg; Historikerinnen und Historiker rückten die Geschichte dieser zu wenig bekannten Weltgegend ins Licht. Noch vor der russischen Invasion hatte Stefan Creuzberger das komplizierte Verhältnis von Deutschen und Russen analysiert („Das deutsch-russische Jahrhundert“, Rowohlt);  Kerstin S. Jobst legte eine kompakte „Geschichte der Ukraine“ vor (Reclam), während Gwendolyn Sasse schon die aktuellen und historischen Hintergrundinformationen lieferte („Der Krieg gegen die Ukraine“, C.H. Beck). Und der 83-jährige Literaturwissenschaftler Helmut Lethen machte sich faszinierende Gedanken über eine zentrale, folgenreiche Figur der russischen Geistesgeschichte: den Großinquisitor aus Dostojewskis Roman „Die Brüder Karamasow“ („Der Sommer des Großinquisitors“, Rowohlt Berlin).
 

Adler, Eigendorf, Creuzberger, Jobst © Ch. Links, S. Fischer, Rowohlt, Reclam

Überhaupt sind Bücher zu historischen Themen seit vielen Jahren verlässliche Größen auf dem Sachbuchmarkt, so auch 2022. So gewann Stephan Malinowski mit „Die Hohenzollern und die Nazis“ (Propyläen) den zum zweiten Mal vergebenen Deutschen Sachbuchpreis: Er griff damit in die Debatte um Entschädigungsforderungen der adligen Familie ein und bot eine anschauliche Erzählung über die Verstrickung der Hohenzollern in den Kampf gegen die Weimarer Republik und den Aufstieg des Nationalsozialismus. Analog zum prominenten Deutschen Buchpreis für Belletristik soll der Deutsche Sachbuchpreis das beste Buch eines Jahres aus diesem Genre auszeichnen und damit generell diesem Segment die verdiente Aufmerksamkeit verschaffen. Ein echter Publikumserfolg gelang dem Journalisten Harald Jähner mit „Höhenrausch“ (Rowohlt Berlin), das die wilden, abgründigen 1920er Jahre in Deutschland mit den anschließenden Jahren der NS-Diktatur auf anschauliche, lebendige Art verknüpfte. Genau von der gleichen Epoche erzählte auch der Historiker Michael Wildt in „Zerborstene Zeit. Deutsche Geschichte 1918 – 1945“, der dafür die höchste Auszeichnung seines Faches bekam: den Preis des Historischen Kollegs in München. Das glänzend erzählte historische Sachbuch blieb ein zentraler Trend: Der Ex-Verleger von S. Fischer und Krimi-Autor Jörg Bong startete mit „Die Flamme der Freiheit“ (Kiepenheuer & Witsch) eine großangelegte Trilogie über die deutsche Revolution von 1848 und deren demokratische Tradition. Fast wie ein Ausscheren wirkte es da, dass der traditionell wichtige Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Sachbuch der Dichterin und Übersetzerin Uljana Wolf zugesprochen wurde: In ihrem Essayband „Etymologischer Gossip“ (kookbooks) denkt sie über das Schreiben und Übersetzen zwischen Sprachen und Kulturen nach.
 

Lethen, Sasse, Malinowski, Jähner © Rowohlt Berlin, C.H. Beck, Propyläen, Rowohlt Berlin

In nach wie vor virulente Zonen unserer Vergangenheit begaben sich auf jeweils unterschiedliche Weise Christiane Hoffmann und Natan Sznaider: Während die heutige stellvertretende Sprecherin der Bundesregierung sich auf eine Wanderung auf den Spuren ihres Vaters macht, der 1945 aus seiner schlesischen Heimat floh („Alles, was wir nicht erinnern“, C.H. Beck), schaut Natan Sznaider in „Fluchtpunkte der Erinnerung“ (Hanser) auf die komplexe wie hoch emotionale Debatte um das Verhältnis von Holocaust und kolonialer Vergangenheit.
 

Bong, Wolf, Wildt, Hoffmann, Sznaider © Kiepenheuer & Witsch, kookbooks, C.H.Beck, Hanser

Doch neben all der deutschen Historie gibt es auch allerneueste Gegenwart – zahlreiche Bücher zu den Themen Klimawandel, Antirassismus und Emanzipation sind erschienen. Und es wird sich zunehmend Gedanken darüber gemacht, wie die Jüngeren auf die Herausforderungen reagieren. Die Schriftstellerin Nora Bossong („Die Geschmeidigen“, Ullstein) und die Journalistin Anna Sauerbrey („Machtwechsel“, Rowohlt) haben sich die Generation der 40-Jährigen in der deutschen Politik, die mit der Ampelkoalition zusehends in die Entscheidungspositionen des Landes gerät, zur Gruppenanalyse vorgenommen: Was treibt sie an, was können sie gesellschaftlich an Veränderungen bewirken? Mit Klimawandel und Krieg sind die zentralen Aufgaben plötzlich dramatisch aktuell geworden.
 

Bossong, Sauerbrey, Habermas, Precht, Welzer © Ullstein, Rowohlt, Suhrkamp, S. Fischer

​​​​​​​ Aber reagieren Medien hierzulande als Diskussionsforum der Öffentlichkeit angemessen auf die neuen Herausforderungen, vor denen die Jüngeren stehen? Der Altmeister deutscher Debatten und zugleich weltweit bedeutendste Philosoph der Gegenwart sieht da die Lage gewohnt kritisch: Jürgen Habermas, mittlerweile 93 Jahre alt, hat mit dem schmalen Band „Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik“ (Suhrkamp) für Furore gesorgt. Er untersucht, wie soziale Medien via Fake News und Shitstorms die jahrzehntelang eingeübten demokratischen Aushandlungsprozesse gefährden. Medienkritik wurde generell zum überraschenden Publikumsrenner und schaffte es bis auf Platz 1 der Bestsellerliste: Richard David Precht und Harald Welzer, seit vielen Jahren virtuose und erfolgreiche Profis beim Bespielen von Presse, Funk und Fernsehen, gingen in „Die vierte Gewalt“ (S. Fischer) hart mit den deutschen Medien ins Gericht – diese seien oft tendenziös und vorverurteilend, zu schnell einem Herdentrieb folgend und dem Druck von Twitterwogen nachgebend. Diese Diagnose wiederum lieferte selber Material für heftige Diskussionen – und man sieht, dass das oft totgesagte Medium Buch immer noch ein wichtiger Stofflieferant für die öffentlichen Debatten in Deutschland ist.


Alexander Cammann, geboren 1973 in Rostock, hat Geschichte und Philosophie studiert und lebt in Berlin. Seit 2009 ist er Feuilletonredakteur in der ZEIT in Hamburg, wo er für Sachbücher zuständig ist.

Copyright: © 2023 Litrix.de