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Von Robben und Mäusen: H.C. Artmanns und Elsa Klevers fantastisch-realistische Bildererzählung „Maus im Haus“

„Ich will euch nun die Geschichte von Ompül erzählen, wie er die Mäuse aus dem Haus gejagt hat, weil sie ihm den guten Speck, den Käse und die Kekse wegknabberten." So beginnt die Erzählung „Maus im Haus" des österreichischen Lyrikers, Schriftstellers und Übersetzers H.C. Artmann (1921 - 2000) – harmlos und gleichzeitig unsere Neugier erweckend. Man spitzt schon im Geiste die Ohren, als säße man in einer lauschig-launigen Runde mit einem weisen, alten Erzähler, der gleich eine geheime Tür in die noch geheimeren Gemächer der eigenen Tagträume öffnen wird. Da fallen sogleich Reizworte wie „ganz weit unten in Amerika", von „unheimlich dichten Wäldern", über deren Gipfeln und Wipfeln man sogar spazieren gehen kann – und eben von Ompül, dem kleinen schnauzbärtigen Robbenmann, der einst einmal ein Seemann war und jetzt als Leuchtturmwärter arbeitet. Gleich in der Nähe von Feuerland. Wo sonst?

Man muss als junger oder älterer Geschichtenliebhaber nicht wissen, dass H.C. Artmann einer der bedeutendsten Vertreter einer neuen, experimentellen Nachkriegslyrik in Europa war, ein poetischer Fantast, der mit Freude die formalen Konventionen herkömmlicher Dichtung übersprang. Es reicht, wenn man sich dem Zauber seiner Fabulierkunst hingibt, so wie es auch die Illustratorin Elsa Klever tut, wenn sie Artmanns Erzählung von 1979 – einer der wenigen Texte, die er für Kinder geschrieben hat – vor unseren Augen bunt und klar mit liebenswerten Geschöpfen und in augenzwinkernder Dramatik ausbreitet. Sie beherrscht meisterlich eine aufs Wesentliche reduzierte realistische Symbolik, die sie mit einer Mischung aus Acrylmalerei, Sprühtechnik und mit computerbearbeiteten Szenarien aufs Papier bringt. Damit erschafft sie eine aufregend anregende Symbolwelt, deren Einzelteilchen für jedes Kind und für jeden Erwachsenen leicht zu entschlüsseln und mit dem eigenen Sinn für Wirklichkeit und mit der eigenen Fantasie zu verknüpfen sind. Mit ihrer Landschafts- und Figurengestaltung kreiert sie – kongenial zum fantastischen Realismus des Autors – eine unverwechselbare Bilderwelt. Auf jeder Textseite erscheint zudem ein Schlüsselwort, dessen colorierte Buchstaben auf die Farbgebung des dazugehörigen Bildes verweisen.

Eines Tages also kommt Ompül von einem seiner Einkäufe in der nahen Stadt zurück. Im Einklang mit sich und der Welt. Ein friedliches Bild, wie er da mit seiner alten Matrosenmütze, seinem rotweiß gestreiften Wollschal und den Einkaufstüten die Treppen des Leuchtturms hochrobbt. Es könnte ein entspanntes Wochenende werden, wenn er sich nach seiner verantwortungsvollen Tätigkeit, oben im Dienstzimmer bei den Scheinwerfern, ins Privatleben zurückzieht und unten in der Guten Stube im Schaukelstuhl sitzt, in der Zeitung („Der Feuerländer") blättert und seinen Tagträumen nachhängt: von Sternen, vom Blick aus dem Weltall auf den wunderschönen Blauen Planeten, vom Kinobesuch mit Pinguin, vom Motorradfahren... Doch seine Fantastereien, zu denen die Bilder von Elsa Klever wie von selbst zu entstehen scheinen, werden von einem einfachen, aber umso durchdringenderen PIEP! jäh unterbrochen. Das ist der Beginn einer wunderbar fröhlichen Katz-und-Maus-, Entschuldigung: Katz-und-Robbe-Geschichte. Die geht zwar nicht in jeder Phase der Eskalation im Sinne des guten alten Ompül aus, aber sie erreicht auch nie das vordergründig brutale und schwarzweißgemalte Niveau von Tom-und-Jerry-Storys.

Robbe und Mäuse sind bei Artmann Vertreter von durch die Widrigkeiten des Lebens gereiften Spezies von Geschöpfen, die pragmatisch robben- bzw. mäuseschlau ihre Talente und Überlebensstrategien im Revier des Nachbarn ausspielen, ohne diesen ernsthaft zu diskreditieren oder gar zu verletzen. Der Schlauheit der Mäuse setzt Ompül die Lebensklugheit seiner Jahre entgegen und die Kraft seiner Fantasie. Am Ende ist keiner ein Dummrian und die fast schon symbiotische Leuchtturm-Hausgemeinschaft kann sich auf die nächste Reiberei freuen. Langweilig wird weder dem frohgemuten Ompül und seinen Hausmäusen noch den jungen und alten Lesern. Die Großen goutieren Artmanns hintergründige Ironie, die Kleinen erfreuen sich an der Situationskomik und an der fantastischen Bilderwelt. Und beiden gemeinsam ist die Erkenntnis, dass man nie weiß, was einem der Abend für Besucher bringt. Was raschelt denn da unterm Schreibtisch?
Buchcover Maus im Haus

Von Siggi Seuß

​Siggi Seuß, freier Journalist, Hörfunkautor und Übersetzer, schreibt seit vielen Jahren Kinder- und Jugendbuchkritiken.