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Buchcover Die letzten warmen Tage

Ricarda Junge Die letzten warmen Tage

Ricarda Junge
Die letzten warmen Tage

Mit Förderung von Litrix.de auf Arabisch erschienen.

Immer auf dem Sprung: Ricarda Junges atmosphärischer Ost-West-Roman „Die letzten warmen Tage“

Sonnenberg gilt als der wohlhabendste Stadtteil Wiesbadens. Hier wachsen in den 1980er und `90er Jahren die Geschwister Anna und Eike auf – nach außen hin sorglos und harmonisch. Der Vater ist evangelischer Pastor, äußerlich erkennbar an „zwei kleinen schwarzen Koffern, einer für Haustaufen, der andere für die Feier des Abendmahls“. Die Mutter Christine kam mit ihrer Familie unmittelbar vor dem Mauerbau 1961 in den Westen, ihr Vater Karl verschwand kurze Zeit später. Die unbeantwortete Frage, ob er in die DDR zurückkehrte, belastet auch noch die Enkel: „Mutters Vorsicht, dieses ewige Misstrauen – vielleicht ist das bei allen Flüchtlingen so. Sie ist in der DDR geboren, in Rostock. Als sie elf Jahre alt war, waren ihre Eltern mit ihr und ihrem Bruder in den Westen geflohen. Das ist lange her, sie sei noch ein Kind gewesen, sagt sie immer, und trotzdem: Einmal alles verloren, das reicht – nein, das fehlt für ein ganzes Leben. Da guckt man genau hin, passt auf.“
 
Christine arbeitet als Ärztin im städtischen Gesundheitsamt, wo sie hauptsächlich afrikanische Prostituierte auf Aids testet – eine mühsame Prozedur, da die ahnungslosen Patientinnen panisch kreischen, sobald ihnen Blut abgenommen werden soll. Vor der Behörde warten derweil die Zuhälter in ihren protzigen Karossen. Es sind solche plastischen Szenen und sprechenden Details, die Ricarda Junges vierten Roman „Die letzten warmen Tage“ zu einer einprägsamen und zugleich unterhaltsamen Lektüre machen.
 
Die 1979 in Wiesbaden geborene, mehrfach ausgezeichnete Autorin hat die Hauptfigur Anna eng an ihre eigene Biographie angelehnt: beider Familien stammen aus dem Osten, beide sind Pfarrerstöchter, wollten seit frühester Jugend schreiben und haben am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig studiert – Ricarda Junge anschließend noch evangelische Theologie. Anna empfindet sich als „Flüchtlingskind“ in zweiter Generation mit einem „vererbten Gefühl von Verlust“. Über Wiesbaden heißt es in sanfter Ironie, die Stadt sei eine „dumme Schöne, die sich ergeben ins Tal, ihren Kerker, schmiegt. […] Verglichen damit war Leipzig ein offenes Feld, mit ungeschützten Flanken nach Norden, Osten, Süden und Westen.“ Es ist dieser geographische und zeitliche Kontrast zwischen der alten saturierten Bundesrepublik, verkörpert in Wiesbaden, und den „neuen“, noch undefinierten Orten Leipzig und Ost-Berlin, der dem weit ausgreifenden Roman Spannung verleiht.
 
Die Handlung springt kapitelweise zwischen Annas Jugend und ihrer Gegenwart hin und her. Die „heutige“ Anna arbeitet als scheinselbständige Werbetexterin beim Online-Versandhaus „Universal Shoes“ in Berlin. Eines Abends begegnet sie auf der Straße dem Geschäftsmann Constantin, dessen Marotten in aller Ausführlichkeit geschildert werden. Kein Wunder, dass sich Anna nicht recht auf ihn einlassen kann. So wie ihre Mutter (die eigentliche Hauptfigur) lange Zeit weder Vorhänge noch Lampen anbringen wollte und mit den Kindern tagelang unschlüssig im Möbelgeschäft verweilte, so kann sich auch die erwachsene Anna nicht festlegen. Stets sucht sie den einen Locus amoenus: „Wenn wir in der Lage sind, uns an einen besseren Ort zu denken als den, an dem wir uns gerade befinden, warum sollten wir dort nicht bleiben?“ Sicherheit geben ihr allein der Bruder und die Gewissheit, schreiben zu wollen.
 
Als gegen Ende das Schicksal des verschwundenen Großvaters Karl aufgeklärt wird, ist das für Annas eigenes Leben nicht mehr wirklich relevant. Möglicherweise hat Ricarda Junge ihren neuen Roman zu sehr an der eigenen Familiengeschichte angelegt und sich dadurch mancher erzählerischer Freiheit beraubt. Dennoch überzeugt er dank der exakten, plastischen Sprache als atmosphärische Darstellung von fünfzig Jahren deutscher Geschichte anhand von Einzelschicksalen
Buchcover Die letzten warmen Tage

Von Katrin Hillgruber

​Die Autorin lebt als freie Literaturkritikerin und Kulturjournalistin in München und war von 2009 bis Ende 2012 Belletristik-Jurorin bei Litrix.de