Ricarda Junge Die letzten warmen Tage
- S. Fischer Verlag
- Frankfurt am Main 2014
- ISBN 978-3-10-002218-9
- 432 Seiten
- Verlagskontakt
Ricarda Junge
Die letzten warmen Tage
Immer auf dem Sprung: Ricarda Junges atmosphärischer Ost-West-Roman „Die letzten warmen Tage“
Christine arbeitet als Ärztin im städtischen Gesundheitsamt, wo sie hauptsächlich afrikanische Prostituierte auf Aids testet – eine mühsame Prozedur, da die ahnungslosen Patientinnen panisch kreischen, sobald ihnen Blut abgenommen werden soll. Vor der Behörde warten derweil die Zuhälter in ihren protzigen Karossen. Es sind solche plastischen Szenen und sprechenden Details, die Ricarda Junges vierten Roman „Die letzten warmen Tage“ zu einer einprägsamen und zugleich unterhaltsamen Lektüre machen.
Die 1979 in Wiesbaden geborene, mehrfach ausgezeichnete Autorin hat die Hauptfigur Anna eng an ihre eigene Biographie angelehnt: beider Familien stammen aus dem Osten, beide sind Pfarrerstöchter, wollten seit frühester Jugend schreiben und haben am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig studiert – Ricarda Junge anschließend noch evangelische Theologie. Anna empfindet sich als „Flüchtlingskind“ in zweiter Generation mit einem „vererbten Gefühl von Verlust“. Über Wiesbaden heißt es in sanfter Ironie, die Stadt sei eine „dumme Schöne, die sich ergeben ins Tal, ihren Kerker, schmiegt. […] Verglichen damit war Leipzig ein offenes Feld, mit ungeschützten Flanken nach Norden, Osten, Süden und Westen.“ Es ist dieser geographische und zeitliche Kontrast zwischen der alten saturierten Bundesrepublik, verkörpert in Wiesbaden, und den „neuen“, noch undefinierten Orten Leipzig und Ost-Berlin, der dem weit ausgreifenden Roman Spannung verleiht.
Die Handlung springt kapitelweise zwischen Annas Jugend und ihrer Gegenwart hin und her. Die „heutige“ Anna arbeitet als scheinselbständige Werbetexterin beim Online-Versandhaus „Universal Shoes“ in Berlin. Eines Abends begegnet sie auf der Straße dem Geschäftsmann Constantin, dessen Marotten in aller Ausführlichkeit geschildert werden. Kein Wunder, dass sich Anna nicht recht auf ihn einlassen kann. So wie ihre Mutter (die eigentliche Hauptfigur) lange Zeit weder Vorhänge noch Lampen anbringen wollte und mit den Kindern tagelang unschlüssig im Möbelgeschäft verweilte, so kann sich auch die erwachsene Anna nicht festlegen. Stets sucht sie den einen Locus amoenus: „Wenn wir in der Lage sind, uns an einen besseren Ort zu denken als den, an dem wir uns gerade befinden, warum sollten wir dort nicht bleiben?“ Sicherheit geben ihr allein der Bruder und die Gewissheit, schreiben zu wollen.
Als gegen Ende das Schicksal des verschwundenen Großvaters Karl aufgeklärt wird, ist das für Annas eigenes Leben nicht mehr wirklich relevant. Möglicherweise hat Ricarda Junge ihren neuen Roman zu sehr an der eigenen Familiengeschichte angelegt und sich dadurch mancher erzählerischer Freiheit beraubt. Dennoch überzeugt er dank der exakten, plastischen Sprache als atmosphärische Darstellung von fünfzig Jahren deutscher Geschichte anhand von Einzelschicksalen

Von Katrin Hillgruber
Die Autorin lebt als freie Literaturkritikerin und Kulturjournalistin in München und war von 2009 bis Ende 2012 Belletristik-Jurorin bei Litrix.de
Inhaltsangabe des Verlags
Ein kluger Liebes- und Familienroman, der zugleich ein Buch über das geteilte Deutschland ist
Die neunundzwanzigjährige Anna sucht ihren verschollenen Großvater, dessen Geschichte wie ein Schatten über dem Leben ihrer Familie liegt: Er ist im August 1961 aus der DDR geflohen und wenige Wochen später spurlos verschwunden.
Während ihrer Recherchen lernt Anna Constantin kennen, Manager eines Internet-Unternehmens und zwanzig Jahre älter als sie. Zwischen den beiden entwickelt sich eine leidenschaftliche Liebesbeziehung, die eine jähe Wende erfährt, als Constantin Anna vor eine furchtbare Wahl stellt.
Plötzlich zeigt sich die Geschichte des Großvaters in Annas Leben, erzählt sich in ihrer Gegenwart fort: eine Geschichte von Heimat und Flucht, Liebe und Verrat und von der Wahl, vor die einen die Freiheit stellt: Soll man gehen oder bleiben?
(Text: S. Fischer Verlag)