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Buchcover Esther und Salomon

Übersetzungsförderung
Für diesen Titel bieten wir eine Übersetzungs­förderung ins Italienische (2022 - 2024) an.

Wenn die Worte an Grenzen stoßen

Elisabeth Steinkellner ist eine Spezialistin für die Gefühlsturbulenzen der ersten Liebe. Jener schmale Grat zwischen Kindheit und Erwachsenenwelt wird selten so sensibel vermessen wie in den Romanen der Österreicherin. In „Rabensommer“ oder „Die Nacht, der Falter und ich“ erzählt sie vom Entzücken und den Selbstzweifeln, die ihre Protagonistinnen nach der ersten Gefühlswelle erfassen. So ergeht es auch Esther, die mit ihren unentwegt streitenden Eltern und der fünfjährigen Schwester Flippa Ferien in einem Hotel am Mittelmeer macht. Meist zieht sie alleine mit der Schwester zum Strand. Dort trifft sie auf Salomon, einen Jungen, dem man die Verantwortung für seine Schwester Aisha übertragen hat, die im gleichen Alter wie Flippa ist.

Die kleinen Mädchen sind sogleich beste Freundinnen. Zwischen Esther und Salomon entwickelt sich eine vorsichtige Annäherung, aus der aber bald mehr wird. Esther schleicht sich nachts aus dem Hotel, um Salomon zu treffen. Wie Elisabeth Steinkellner diese ersten Berührungen in Worte fasst, wie sie diskret bleibt und ihre Erzählung zugleich mit Intensität auflädt, das zeugt von virtuoser Meisterschaft. Sie verfügt über die besondere Fähigkeit, komplexe Gefühlslagen in subtilen Sprachbildern mitzuteilen. Esther wird nach einem ihrer nächtlichen Ausflüge von den Eltern erwischt, es gibt ein großes Donnerwetter. Aber der intime Moment der Liebe macht stark, selbst eine 14-Jährige fühlt sich dann unbesiegbar. Dennoch werden auch diese Ferien ein Ende nehmen.

Während wir Esthers Worten folgen, streut Elisabeth Steinkellner Polaroid-Fotografien in den Text ein, die von ihr stammen, aber Esther zugeschrieben werden. Diese Bilder von verliebten Schatten oder glitzernden Feuerwerkskörpern besitzen nicht dieselbe Aussagekraft wie der Text, aber illustrieren den Sehgewohnheiten der jugendlichen Leser*innen entsprechend, was wir schon wissen oder ahnen. Am Ende des ersten Teils dieses Romans findet sich jedoch ein aufschlussreiches Foto der beiden Teenager, auf dem zu erkennen ist, dass Salomon eine schwarze Hautfarbe hat.

Nun erzählt der Roman mit seiner Stimme und mit ihr eröffnet sich eine neue Schicksalsdimension. Nach der Ermordung seines Vaters in einem ungenannten afrikanischen Land ist Salomon mit seiner Mutter auf dramatische Weise über das Mittelmeer nach Europa geflüchtet. Hier arbeitet die Mutter – eine ehemalige Lehrerin – im Hotel. Auch bei seiner Mutter fühlt sich Salomon nicht mehr zu Hause, seit ein anderer Mann Teil ihres Lebens geworden ist. Esther wird für Salomon zum Sehnsuchtsanker. Wie soll er ihr das mitteilen, immer wieder stellt sich im Roman die Frage, wie Sprache in die Grenzbereiche menschlicher Empfindung vordringen kann.

Dann verunglückt Salomons Mutter und die Ungewissheit wird vollends zum bestimmenden Thema des Romans. Zuvor schon besaß er beträchtliches Tempo, nun nimmt er zusätzlich Fahrt auf und steigert sich zu einer atemberaubenden Lektüre. Dass Elisabeth Steinkellner die freie Versform für ihren Roman wählt und manchmal nicht mehr als zwei Sätze auf einer Seite stehen, kommt ihrem jugendlichen Publikum sicher entgegen. Zwar umfasst der Roman über 300 Seiten, aber die Unmittelbarkeit der Erzählstimmen von Esther und Salomon erzeugt vom ersten Vers an Sogwirkung.

Als Pendant zu den Bildern der fotografierenden Esther präsentiert das Buch uns Salomons Zeichnungen, die von Michael Roher entworfen wurden. In feinen Schwarzweiß-Schattierungen zeigen sie Gegenstände wie eine Teekanne oder einen Blumenstrauß. Dieser konzentrierte Blick auf die Dinge des Alltags bremst die Dramatik des Erzählflusses auf wohltuende Weise. Auch die Gestaltung von Cover und Layout sowie die Wahl der Typographie erweisen sich als exquisit. Eine große Leserschaft ist diesem Jugendroman zu wünschen, der ein aktuelles Thema wie das Schicksal der Emigration über die feine Gefühlsentwicklung der ersten Liebe erschließt.
Buchcover Esther und Salomon

Von Thomas Linden

​Thomas Linden arbeitet als Journalist (Kölnische Rundschau, WWW.CHOICES.DE) in den Bereichen Literatur, Theater und Film und konzipiert als Kurator Ausstellungen zur Fotografie und zur Bilderbuchillustration.