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Buchcover Heul doch nicht, du lebst ja noch

Kirsten Boie Heul doch nicht, du lebst ja noch

Übersetzungsförderung
Mit Förderung von Litrix.de auf Italienisch erschienen

Das Aroma einer Epoche

Fünf Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs ist Kirsten Boie in Hamburg zur Welt gekommen. In den Häuserzeilen der fünfziger Jahre waren die Ruinengrundstücke noch allgegenwärtig, in denen die Kinder fern vom Blick der Erwachsenen ihren Spielen selbstvergessen nachgehen konnten. Zu Hause lauschte sie beim Abwasch nach dem Mittagessen oder beim sonntäglichen Kaffeetrinken den Gesprächen der Mutter oder der älteren Cousinen, in denen diese sich an die Zeit des Nationalsozialismus und die Schrecken der Bombennächte erinnerten. Man wächst auf mit solchen Geschichten, die man zwar selbst nicht erlebt hat, die aber im Dunstkreis der Familie präsent bleiben und immer wieder an die Oberfläche drängen. Jetzt, mit 70 Jahren, nachdem sie ein beeindruckendes Werk als Kinder- und Jugendbuchautorin geschaffen hat, erinnert sie sich mit dem Roman „Heul doch nicht, du lebst ja noch“ an den Sound der Kindheit. Schon der Titel spielt auf die schmale Gefühlsklaviatur an, die den Kriegskindern damals zugestanden wurde.

Dass Kirsten Boie eine großartige Schriftstellerin ist, demonstriert sie gleich in der Eröffnungssequenz des Romans. Ein Junge wartet in seinem Ruinenversteck auf den Mann, der ihn mit Nahrung versorgt. Aber schon zum zweiten Mal ist er nicht gekommen. Jakob weiß noch nicht, dass der Krieg zu Ende ist und die Britische Besatzungsmacht das öffentliche Leben kontrolliert. Sein Hunger ist so groß, dass er überlegt, das Versteck zu verlassen. Kirsten Boie muss nichts konstruieren. Sofort befinden wir uns in den ersten Tagen nach dem Waffenstillstand. Die Geschichte fließt trotz der schwierigen Sujets mit Spannung dahin. Jakob ist der Sohn einer jüdischen Mutter. Sie hat ihn auf dem Weg zu ihrer Deportation fortgeschickt wie einen anhänglichen Hund, damit er ihrem Schicksal entgehen konnte. Auf sich allein gestellt, vertraut er einem Mann aus der Nachbarschaft und sein Instinkt täuscht ihn nicht.

Jakob ist nur einer von drei jugendlichen Protagonisten, durch deren Lebensrealität uns Kirsten Boie den Blick auf die Epoche weitet. Da ist zum einen Traute, die Tochter eines Bäckers, die in beengten Verhältnissen lebt, weil die Familie schlesische Flüchtlinge aufnehmen musste, mit denen sie sich nun Bad und Küche teilt. Traute hat ihre Freundinnen verloren, die bei einem Bombenangriff verbrannten. Sie stiehlt dem Vater ein Brot, um sich bei den Jungen der Nachbarschaft den Zugang zu deren Fußballrunde zu erkaufen. Der Verdacht fällt jedoch sogleich auf die ungeliebte Flüchtlingsfamilie. Im Kreise der Jungen hat Hermann das Sagen. Er hält sich am liebsten auf der Straße auf, weil zu Hause ein Vater wartet, der im Krieg beide Beine verloren hat. In seiner Verbitterung ist er zum resignierten Zyniker geworden. In dieser Gestalt zeigt uns Kirsten Boie jene Unbelehrbaren, die auch als Kriegsversehrte nicht einsehen mögen, warum sie dem Nationalsozialismus abschwören sollten.

Der Roman mündet immer wieder in dramatischen Szenen. Wenn Jakob etwa in seiner Verzweiflung glaubt, jenes Mädchen, von dem wir wissen, dass es Traute ist, erschlagen zu müssen, um an ein Stück Brot zu kommen. In solchen Momenten klingt der harte Ton der Trümmerliteratur an. Auch Heinrich Böll schrieb über die plötzliche Bedeutung des Brotes und man versteht, warum die fünfziger Jahre die Epoche existenzieller Fragen sein mussten. Kirsten Boie kennt das Milieu ihrer Figuren. Sie weiß um ihre Einsamkeit, die sich bei jedem der Kinder anders zeigt. Und sie gibt den Kindern jene Gefühle zurück, die sie damals nicht haben durften. Kirsten Boie vermittelt uns im Aroma der Epoche das Weltbild der Menschen, ihr Denken und buchstäblich auch ihren Geruch. Das ist große Literatur.
Buchcover Heul doch nicht, du lebst ja noch

Von Thomas Linden

​Thomas Linden arbeitet als Journalist (Kölnische Rundschau, WWW.CHOICES.DE) in den Bereichen Literatur, Theater und Film und konzipiert als Kurator Ausstellungen zur Fotografie und zur Bilderbuchillustration.