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Buchcover Lügen über meine Mutter

Daniela Dröscher Lügen über meine Mutter

Übersetzungsförderung
Für diesen Titel bieten wir eine Übersetzungs­förderung ins Italienische (2022 - 2024) an.

Ein Stück weiblicher Alltagsgeschichte

Ein westdeutsches Dorf der 1980er Jahre, eine zunächst drei-, später vierköpfige Familie, die im selben Haus wie die Eltern des Vaters wohnt, eine anfangs sechsjährige Erzählerin, die den ständigen Streitigkeiten der Eltern ausgesetzt ist.

Schon ein knapper Abgleich des Settings mit den biographischen Daten der 1977 geborenen Daniela Dröscher zeigt, dass es sich bei „Lügen über meine Mutter“ um ein Beispiel autofiktionalen Erzählens handelt, auf das man in der deutschsprachigen Literatur derzeit verstärkt trifft. Weit über das Autobiographische und Private hinaus aber beleuchtet und reflektiert Daniela Dröscher in ihrem Roman auch ein Kapitel weiblicher Alltags- und Sozialgeschichte, das in der offiziellen Geschichtsschreibung, genauso wie in der privaten Familienerzählung, oftmals übersehen wird. Und das deshalb gerade Frauen nachfolgender Generationen noch immer, bewusst oder unbewusst, in den Knochen zu stecken scheint: die Kluft zwischen dem Versprechen zur beruflichen Verwirklichung einerseits und der Care-Arbeit andererseits und vor allem auch: die beständige, wenngleich oftmals unterschwellige Konfrontation mit Körperidealen.

Denn die Auseinandersetzungen der Eltern, von denen Daniela Dröscher ihr kindliches Alter Ego erzählen lässt, entzünden sich notorisch immer wieder an ein und demselben Thema: Der Vater hadert mit dem Körper seiner Frau. Sie ist ihm, kurz und brutal gesagt, zu dick. Es bleibt nicht bei Vorwürfen. Der Vater nötigt die Mutter zu Diäten und Kuren, kontrolliert, was sie isst, steht neben der Waage und notiert den Ausschlag der Zeiger, führt Buch auch über kleinste Schwankungen des Gewichts. Sogar für das Stagnieren der eigenen Karriere macht er den Körper seiner Frau verantwortlich.

Ungewöhnlich ist die Form, die Daniela Dröscher für „Lügen über meine Mutter“ gewählt hat. Die Jahre 1983 bis 1985, die sie aus kindlicher Perspektive erzählt, werden unterbrochen von essayistischen Passagen. In ihnen werden aus der Gegenwartsperspektive das Schreiben selbst und jene Aspekte reflektiert, die die Wahrnehmungsmöglichkeiten des Kindes übersteigen. Hier kommen die gesellschaftlichen Umstände zu Sprache, die die familiäre Dynamik verstärken oder gar bedingen: Erst seit 1977, dem Geburtsjahr Dröschers, durften Frauen in Westdeutschland ohne die Erlaubnis des Ehemanns berufstätig sein. Für Mütter blieb diese Möglichkeit zur Berufstätigkeit in der Regel ein leeres Versprechen – staatliche Kinderbetreuung gab es nur in den seltensten Fällen.

So ergeht es auch der Mutter in Dröschers Roman. Mit immer neuer Energie – mitunter auch mit mehr oder weniger kleinen Lügen – wehrt sie sich gegen die Fremdbestimmtheit ihres Körpers und versucht zudem, sich beruflich zu emanzipieren in dem winzigen Zeitfenster, das ihr neben dem selbstverständlich ihr obliegenden Haushalt und dem Kümmern um bald zwei Töchter bleibt.

Wie wiederum der Vater in „Lügen über meine Mutter“ das Haushaltsgeld rationiert und sich selbst mit neuen Autos schmückt, vorzugsweise Cabrios, offenbart ein typisches Verhaltensmuster jener Männer, die im Fahrtwind des Wirtschaftswunders schwanken zwischen Aufstiegs- und Repräsentationswillen, Konformitätsdruck und Sparsamkeitsdiktat. Letzteres mag aus der Kriegserfahrung der Eltern rühren, ähnlich wie das vom Vater aggressiv eingeforderte Körperideal seine Ursprünge offenkundig in der NS-Ideologie asketischer, gestählter Körper hat.

Das überraschende Ende der tragischen Ehe sei an dieser Stelle nicht verraten. Sehr wohl aber sei gesagt, dass Daniela Dröscher mit ihrem Roman etwas Bemerkenswertes gelingt: Sie erzählt über einen Körper, ohne ihn noch einmal auszustellen, ihn ungeschützt fremden Augen und Urteilen auszusetzen. Und sie öffnet, indem sie „ich“ sagt und auf die eigene Geschichte schaut, den Blick für grundlegende gesellschaftliche Konstellationen.
Buchcover Lügen über meine Mutter

Von Wiebke Porombka

Wiebke Porombka ist Literaturredakteurin im Deutschlandfunk und Mitglied verschiedener Jurys, u.a. Vorsitzende des Wilhelm Raabe-Literaturpreises.