Alois Prinz Ein lebendiges Feuer. Die Lebensgeschichte der Milena Jesenská
- Beltz & Gelberg Verlag
- Weinheim / Basel 2016
- ISBN 978-3-407-82177-5
- 240 Seiten
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So viel Mut
Die Liebesbeziehung hielt trotzdem nicht lange, denn anders als der hochverletzliche Schriftsteller, der seine Briefe wie auch seine Literatur immer als Rückzugsorte betrachtete, forderte Milena gerade die Realität ein. Zwei Stunden Leben seien mehr wert als zwei Seiten Schrift, hatte sie ihm geantwortet, wie Alois Prinz in seiner Biografie berichtet. Dass Milena Jesenská nach ihrem Tod berühmt wurde, verdankte sich anfangs wohl der Kafka-Forschung. Kafkas „Briefe an Milena" verwandelten die Nonkonformistin in eine literarische Ikone. Auch nach dem Ende ihrer Liebesgeschichte blieben Milena und „Frank", wie sie ihn wegen seiner schwer leserlichen Unterschrift nannte, noch in Kontakt; der Schriftsteller übergab ihr seine Tagebücher, und nach seinem Tod im Juni 1924 schrieb sie einen feinfühligen Nachruf. Einiges an Material also ist durch Milenas Literaten-Nähe erhalten geblieben – wobei dieser Kafka-bezogene Ruhm auch eine Bürde ist, wie ihr Biograf Alois Prinz immer wieder betont.
Denn auch jenseits der Liebesepisode mit dem dreizehn Jahre älteren Schriftsteller führte die 1896 geborene Milena Jesenská ein unglaublich intensives, erfahrungsgesättigtes Leben, in dem sich die großen Konfliktlinien des zwanzigsten Jahrhunderts geradezu beispielhaft abzeichnen. Sie war Teil der Künstler- und Intellektuellenkreise zweier Metropolen, erschrieb sich einen Namen als Journalistin, analysierte das veränderte Geschlechterverhältnis, politisierte sich und kämpfte gegen den Faschismus in Europa.
Der Literaturwissenschaftler und Philosoph Alois Prinz, dessen Biografien ein breites Spektrum von Hermann Hesse und Hannah Arendt bis zu Ulrike Meinhof und Paulus abdecken, scheint ein besonderes Interesse für widerständige Geister zu haben (2010 erschien die Anthologie „Rebellische Söhne"). Jetzt hat er mit seiner „Lebensgeschichte der Milena Jesenská" eine energiegeladene Rebellin porträtiert, wobei diese Biografie für Jugendliche und Erwachsene gleichermaßen aufschlussreich sein dürfte.
Im Ton präzise und einfühlsam, aber doch zurückhaltend genug, um nie gefühlig zu klingen, erzählt Prinz vom unangepassten Lebensweg einer höheren Tochter: Milena Jesenská rebellierte nicht nur gegen den Vater, einen Professor der Zahnmedizin. Sie legte sich mit den Konventionen einer untergehenden Welt an, trieb Sport, wanderte, war selbstbewusst und wach, heiratete einen jüdischen Intellektuellen (was den Vater, einen nationalistischen Tschechen, besonders entsetzte) und wurde als junge Frau zeitweilig Kommunistin. Zeitweilig, denn die rigiden Verhaltens- und Publikationsvorschriften ihrer sowjetisch orientierten Genossen wollte sie bald nicht mehr befolgen.
Zugänglich und lesbar verankert Prinz’ Biografie die Geschichte Milena Jesenskás in ihrer Zeit: Der Zerfall Österreich-Ungarns, der Erste Weltkrieg, der in Prag erstarkende Nationalismus der Tschechen, die Gründung der Republik, der zerstörerische Nationalsozialismus, zunächst noch jenseits der Grenze – alles, was nach trockenem Geschichtsunterricht klingen könnte, wird höchst anschaulich entlang einer mitreißenden Lebensgeschichte erzählt.
Das gilt besonders für die letzten Lebensjahre der engagierten Journalistin: 1938, kurz vor dem Münchner Abkommen, war sie ins (noch tschechische) Sudentenland gereist, hatte wochenlang die nationalsozialistischen Sudetendeutschen beobachtet und aufrüttelnde Reportagen für ihre Zeitung verfasst. Im November 1939, nach der Besetzung der Rest-Tschechoslowakei durch die Nazis, wird Milena wegen Untergrund-Aktivitäten verhaftet. In Dresden spricht man sie zwar frei, aber sie wird von den Nazis unter Schutzhaft gestellt. Und kurz darauf ins Frauenkonzentrationslager Ravensbrück deportiert, wo sie 1944 stirbt.
Die Briefe aus dem KZ beschreiben, wie sehr sie sich nach ihrer Tochter, aber auch nach ihrem Vater und nach Prag sehnt. „In jedem Brief", erklärt Prinz, „beteuerte Milena, dass es ihr gut gehe und dass man sich keine Sorgen zu machen brauche. Das stimmte natürlich nicht." Dass sie sich auch im KZ ihren Lebensmut und ihre Hilfsbereitschaft bewahrt hatte, zeigt die Biografie anhand der Zeugnisse von Mitgefangenen, die ihr bis zuletzt „furchtloses Auftreten" bewunderten. „Sie lebte hingebungsvoll und verschwenderisch, war aber stets bereit, die Folgen ihres Lebenshungers zu tragen", schreibt Alois Prinz in seinem Epilog. Ein glänzend erzähltes Leben, dessen Intensität lange nachwirkt.

Von Jutta Person
Jutta Person, geboren 1971 in Südbaden, studierte Germanistik, Italienistik und Philosophie in Köln und Italien und promovierte mit einer Arbeit zur Geschichte der Physiognomik im 19. Jahrhundert. Die Journalistin und Kulturwissenschaftlerin lebt in Berlin und schreibt für die Süddeutsche Zeitung, Die Zeit und Philosophie Magazin. Von 2004 bis 2007 war sie Redakteurin bei Literaturen, seit 2011 betreut sie das Ressort Bücher beim Philosophie Magazin.
(Stand: 2020)
Inhaltsangabe des Verlags
Ihre kurze Liebe mit dem Dichter Franz Kafka machte sie weltbekannt. Doch Milena Jesenská war mehr: Schon früh begehrter Mittelpunkt der Prager Intellektuellenszene, wurde sie später eine engagierte politische Journalistin und schließlich Widerstandskämpferin im »Dritten Reich«.
Die Prager Professorentochter Milena Jesenská (1896-1944) rang zeitlebens um Unabhängigkeit. Sie brach ihr Medizinstudium ab, heiratete gegen den Willen des Vaters, der sie darauf hin entmündigte, und entwickelte sich zu einer Journalistin, die sich gegen soziales Elend einsetzte und gegen das NS-Regime kämpfte.
Eindringlich und mit großer Achtung erzählt Alois Prinz von Milena, die 24 war, als sich ihre Wege mit denen Kafkas kreuzten. Er zieht dabei die erst kürzlich entdeckten Briefe heran, die Milena aus Ravensbrück an ihren Vater und ihre Tochter Honza schrieb. Dabei entsteht das Bild einer jungen Frau, die ungewöhnlich leidenschaftlich war in der Liebe, der Freundschaft und der Sorge für andere.
(Text: Beltz & Gelberg Verlag)