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Buchcover Ein Weiser, ein Kaiser und viel Reis. Von der Erfindung des Schachspiels

Paolo Friz Ein Weiser, ein Kaiser und viel Reis. Von der Erfindung des Schachspiels

18 Trillionen Reiskörner

„Ein Weiser, ein Kaiser und viel Reis“ - ein bezauberndes und lebenskluges Bilderbuch des Schweizer Illustrators und Autors Paolo Friz

wieder aufs Neue: Paolo Friz' Erzählung „Ein Weiser, ein Kaiser und viel Reis“. Man kann sie als fernöstliches Märchen lesen, könnte in der Geschichte eine Legende von der Erfindung des Schachspiels sehen, in jedem Fall aber eine Parabel über Armut und Reichtum, über Gier und Dummheit und über die Klugheit eines weisen alten Mannes, dem es mit Pfiffigkeit und Freundlichkeit gelingt, einem sich allmächtig fühlenden Kaiser ein Zugeständnis abzuringen, oder besser: abzuspielen. Mit dem Ergebnis, dass im Lande endlich Gerechtigkeit einzieht. Der Schlüssel zur Umkehr: der Weise konfrontiert den Herrscher mit einem mathematischen Rätsel, das ihm eine Lehre sein wird.

Die Geschichte trägt die ewige Botschaft von Menschenwürde, Gerechtigkeit und Demut bereits für Kinder so augenscheinlich in sich, dass es eine Freude ist, sie zu lesen und sich in den Bildern zu verlieren. Die Botschaft überdauert die Zeiten ebenso wie die Orte. Sie ist in einem Land vor unserer Zeit genauso gültig wie in unserer komplexen Gegenwart, auf welchem Kontinent und in welcher Glaubenswelt auch immer wir uns befinden.

Der Illustrator Friz untermalt diese Botschaft mit einer faszinierend reduzierten Bildästhetik in digitaler Mischtechnik, so, wie sie der Autor Friz in einfacher, eindringlicher Sprache in Worte fasst: „Still lag der große Fluss im Morgenlicht“, beginnt seine Erzählung. Dabei platziert er den Text, teils mit kleinen Szenenausschnitten versehen, überschaubar am Rand der sich über die Doppelseiten ziehenden Bilder. „Die Bauern beluden ihre Boote und brachten die Reisernte zum Palast, um dem Kaiser seinen Anteil abzugeben.“ Wir sehen, wie sich die mit Reis beladenen Dschunken auf einem breiten, von bizarren Felsformationen umsäumten Gelben Fluss dem in einer geschützten Bucht liegenden Palast nähern. Um die Tiefe des Bildes zu steigern und gleichzeitig die nur äußerlich harmonische Stimmung zu irritieren, hat der Künstler in einem Winkel des Vordergrunds ein bedrohlich wirkendes Teilchen aus einem anderen Kosmos eingefügt: eine an einem Ginkgozweig hängende Fledermaus, neben der eine Raupe ins Bild rückt.

So erschließt uns Paolo Friz immer wieder neue, überraschende Perspektiven auf das Geschehen. Manchmal eröffnen sich vor uns märchenhafte Landschaften, ein andermal die Interieurs des kaiserlichen Palastes, samt Hofgesellschaft, dann wieder ・ wie in einem dramaturgisch perfekt geschnittenen Film ・ zeigen Großaufnahmen die Physiognomien der Figuren. Und schließlich konfrontiert der weise alte Mann den Kaiser und uns Leser mit einem erstaunlichen mathematischen Rätsel.

Der Herrscher verweigert sich nämlich der Bitte der armen Bauern, ihnen einen größeren Reisanteil als bisher zu belassen. Darauf wenden sich die Hungernden an einen alten weisen Erfinder. Der sagt ihnen Hilfe zu und bringt dem spielfreudigen Kaiser ein neues Brettspiel bei: Schach. Pfiffig wie der Weise ist, überlässt er dem Herrscher das neue Spiel nur unter einer Bedingung: „Ich will fürs erste Feld auf dem Brett ein Reiskorn, für das zweite zwei Reiskörner für das dritte vier Reiskörner, für das vierte acht Reiskörner und so weiter. Also immer das Doppelte. Bis zum vierundsechzigsten Feld.“ Der Kaiser willigt ein, im Glauben, nicht mehr als einen Sack Reis zu opfern.

Was der eilends bestellte Hofmathematiker berechnet, setzt Paolo Friz in ein atemberaubendes Bild um: Man bräuchte Milliarden von Frachtschiffen, um den Reis zu transportieren ・ die Schiffskette wäre länger als der Weg von der Erde zur Sonne! 18 Trillionen Reiskörner, 900 Milliarden Tonnen Reis. Der Kaiser ist am Boden zerstört, wirft sich auf die Knie und bittet den alten Mann um Verzeihung. Das ist der Beginn einer neuen Epoche im Lande. - Ach, wie wunderbar wäre es, wenn Potentaten vor der Klugheit und dem Witz der Weisen gelegentlich auf die Knie fallen würden!
Buchcover Ein Weiser, ein Kaiser und viel Reis. Von der Erfindung des Schachspiels

Von Siggi Seuß

​Siggi Seuß, freier Journalist, Hörfunkautor und Übersetzer, schreibt seit vielen Jahren Kinder- und Jugendbuchkritiken.