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Mit Fantasie das Unmögliche erreichen

Der kleine Tiger langweilt sich. Während er widerwillig durch die Hitze des Dschungels spaziert, turnen die Affen vergnügt in den Kronen der Palmen, und selbst die Papageien zeigen sich tatendurstig am Himmel. Ja, die Langeweile kann eine schwere Prüfung sein, eine Krise, die jedes Kind schon einmal durchlitten hat. Wer die quälenden Momente der Ereignislosigkeit hinter sich lässt, dem winken jedoch die Verheißungen der Kreativität. Dazu muss man sich freilich für eine der vielen Möglichkeiten entscheiden, die uns das Leben offeriert. Der kleine Tiger ist da schon auf dem richtigen Weg, als er beginnt, mit den Geiern Fußball zu spielen. Bald schon trifft er auf das Gnu und lernt den Gesang. Seine Laune hebt sich, er schlendert pfeifend durch den Dschungel, die Affen laden ihn ein, in ihrem Theaterstück mitzuspielen. Aber so richtig ins Träumen gerät der Tiger erst beim Blick in die Lüfte, wo die Vögel ihre Flügel ausbreiten.

„Tiger lernt fliegen" verspricht das Bilderbuch von Nikolaus und Nina Ober, das sich als gute Medizin gegen die Langeweile erweist. Es nimmt uns mit auf eine Reise, die auch im Kopf stattfindet. Denn Kinder, die sich langweilen, beginnen in ihrer Fantasie, die Welt zu verwandeln und in Bewegung zu versetzen. Vorausgesetzt, sie werden von keinem Fernsehgerät abgelenkt, das diese Arbeit für sie erledigt. Der Tiger jedenfalls will fliegen lernen, und daran ändert auch die Tatsache, dass er dafür denkbar schlecht ausgestattet ist, nichts. Der verbissene Trotz, mit dem er sein Ziel verfolgt, bereitet ihm manch wertvolle Erfahrung. Er lernt die Welt kennen und die eigenen Möglichkeiten einzuschätzen.

Manches geht daneben. Wie schmerzhaft etwa sein erster Absturz gewesen sein mag, lesen wir an den Gesichtern der Pinguine ab, denen schon beim Zuschauen ganz anders wird. Text und Bild verschränken sich, wenn aus den Aktionen der Tiere akustische Signale auf kleinen Worttafeln aufsteigen. Ein Buch auch und besonders für Erstleser, die sehen können, wie sich Laute bilden. Den übersichtlich strukturierten Sätzen lässt sich gut folgen, und die Motivation für das Lesen holt man sich dadurch, dass sich mit jedem Satzteil auch ein Stück der Geschichte erobern lässt.

Die Bilder von Nina Ober kommen dem Bedürfnis der Kinder nach realistischen Darstellungen entgegen, denn die Illustrationen folgen den natürlichen Bewegungen der Affen, Mäuse und Kraniche, die so konkret wie aus einem Naturkundebuch porträtiert werden.

Letztlich klappt es mit dem Traum vom Fliegen dank eines Flugzeugs. Die Geschichte erfährt durch diese scheinbar konventionelle Idee aber keinen Bruch, denn der Tiger muss sich unter der Anleitung des klugen Brillenbärs seine Flugstunden selbst erarbeiten. Man sieht ihm dann die Freude über das Gelingen an, wie überhaupt das ganze Buch – beginnend mit seinem gelben Vorsatzpapier – eine durchsonnte Atmosphäre verströmt. Im handlichen Format bietet es eine Mischung aus routinierten Porträts des Tigers und ambitionierten Bildkompositionen, die großzügig über die Doppelseiten verteilt wurden. Jüngere Leser können auch ohne Kenntnis des Textes mit Gewinn den Gesten der Tiere folgen, denen eine sympathische Ähnlichkeit mit den Menschen innewohnt.
Buchcover Tiger lernt fliegen

Von Thomas Linden

​Thomas Linden arbeitet als Journalist (Kölnische Rundschau, WWW.CHOICES.DE) in den Bereichen Literatur, Theater und Film und konzipiert als Kurator Ausstellungen zur Fotografie und zur Bilderbuchillustration.