Uwe Timm Ikarien
- Kiepenheuer & Witsch Verlag
- Köln 2017
- ISBN 978-3-462-05048-6
- 506 Seiten
- Verlagskontakt
Uwe Timm
Ikarien
Die Kehrseite der Utopie
Der neue Roman von Uwe Timm dreht sich um Rassentheorie und Eugenik
Ikarien ist ein Sehnsuchtsort. Eine Kommune, wo Gleichheit und Brüderlichkeit herrschen, es keinen Privatbesitz gibt, man gemeinsam arbeitet, lernt, speist und feiert, jeder ein Handwerk ausübt und auf seine Weise glücklich werden kann. So jedenfalls stellen es sich Karl Wagner und Alfred Ploetz vor, als sie 1884 aus Zürich in die USA reisen und die Gemeinde der Ikarier in Iowa mehrere Monate lang besuchen. Die beiden jungen Männer, kommunistische Studenten der Medizin und Ökonomie, hatten Étienne Cabet gelesen, den Gründer der ersten ikarischen Gemeinde, und sich für dessen Ideen begeistert. Eine klassenlose Gesellschaft, viel Platz, Gesundheit, das wäre es doch! Aber die Ikarier entpuppen sich als kleinmütige, verhutzelte Spießer, die Karl wegen einer zarten Romanze an den Pranger stellen und die Besucher der Zerstörung bezichtigen. Aus der neuen Kommune wird nichts. Ploetz allerdings fühlt sich in seiner Mission, den Menschen verbessern zu wollen, eher noch bestärkt.
Uwe Timm nimmt sich einen historischen Stoff vor, zu dem er einen engen Bezug hat: Ploetz, der 1940 siebzigjährig starb, war der Großvater seiner Frau, der Übersetzerin Dagmar Ploetz. Der Arzt gilt als Begründer der Eugenik; der Begriff der „Rassenhygiene" geht auf ihn zurück. Das kulturgeschichtliche Umfeld fließt in den Roman mit ein, aber Timm operiert mit vielfältigen Brechungen und Spiegelungen, was das Sujet überhaupt erst erträglich macht. Für sich genommen, hätte man Ausführungen zur Rassentheorie mit Formulierungen wie „Zuchtwahl", „Ausmerzung" und „Ballastexistenz" nicht 500 Seiten lang ausgehalten. Doch Uwe Timm weiß um die Möglichkeiten der Narration. Auch deshalb erteilt er dem schillernden Ploetz nicht selbst das Wort, sondern erfindet einen abtrünnigen Weggefährten, eben jenen Karl Wagner, und lässt ihn von seiner Freundschaft zu dem Wissenschaftler berichten. Befragt wird der betagte Zeitzeuge von jemandem, der sich der Aufklärung der Nazi-Verbrechen verschrieben hat: von einem amerikanischen Besatzungsoffizier namens Michael Hansen, dem dritten Helden des Romans. Dieser junge Mann, ein Germanist mit Ernst Bloch und E.T.A. Hoffmann im Marschgepäck und als Zwölfjähriger mit seiner Familie nach Amerika ausgewandert, hat die Funktion einer bewertenden Instanz. In ihm verbinden sich analytisches Vermögen, warmer Pragmatismus und Neugierde auf die Vielfalt des Lebens.
Es entsteht also ein spannungsreiches Flechtwerk aus verschiedenen Handlungssträngen, Schauplätzen und Textsorten. Weit ausholende Schilderungen des zerstörten Deutschlands wechseln mit knappen, präzisen Tagebuchnotizen des Offiziers, kontrastiert durch lyrische Landschaftsbilder, Vogelbeobachtungen und 14 Protokolle der Befragungen. Der Original-Ton des alten Herrn, der ins Plaudern gerät und sich auf Seitenpfaden verliert, entfaltet eine ganz eigene Kraft. Immer wieder gibt es Unterströmungen, wenn sich die Protagonisten in Liebesgeschichten verwickeln. Ikarien gewinnt seinen Reiz aus Gegensätzlichem: die zukunftsgewissen USA und das verrohte Deutschland, die Revolutionäre der Münchner Räterepublik und die Menschenzüchter unter den Nazis, Ernst Bloch und Stefan George. In Ikarien lotet Uwe Timm die Abgründe einer Utopie aus.

Von Maike Albath
Maike Albath ist Literaturkritikerin und Journalistin beim Deutschlandfunk und Deutschlandfunkkultur. Sie schreibt außerdem für die Süddeutsche Zeitung. Im Berenberg Verlag liegen ihre Bücher Der Geist von Turin (2010), Rom, Träume (2013) und Trauer und Licht (2019) vor.
Inhaltsangabe des Verlags
Deutschland Ende April 1945: Michael Hansen, 25, kehrt als amerikanischer Offizier in das Land seiner Geburt zurück und übernimmt einen Auftrag des Geheimdienstes. Er soll herausfinden, welche Rolle ein bedeutender Wissenschaftler im Nazireich gespielt hat.
Während regional noch der Krieg tobt, bricht Hansen von Frankfurt nach Bayern auf und bezieht Quartier am Ammersee. In einem Münchner Antiquariat findet er einen frühen Weggefährten des Eugenikers Professor Ploetz, den Dissidenten Wagner. Von ihm lässt er sich die Geschichte einer Freundschaft erzählen, die Ende des 19. Jahrhunderts in Breslau begann und die beiden Studenten über Zürich bis nach Amerika führte – und mitten hinein in die Auseinandersetzung um die beste gesellschaftliche Ordnung: Hier ein Sozialismus nach Marx, dort das utopische Projekt der Gemeinde Ikarien, die vom französischen Revolutionär Étienne Cabet in Amerika gegründet wurde.
Hansen kommt durch die Lebensbeichte Wagners dem faustischen Pakt auf die Spur, den der Rassenhygieniker Ploetz mit den Nazis einging, und dem ganz anderen Schicksal, das den Antiquar wegen seiner widerständigen Haltung ereilte. Seine Reise durch das materiell und moralisch zerstörte Land lässt Hansen Zeuge eines Aufbruchs werden, der die deutsche Geschichte prägen sollte. Zugleich wird sie zu einer éducation sentimentale – auch in der Liebe werden ihm einige Lektionen erteilt.
Eine gleichermaßen erschreckende wie berührende Geschichte von der Suche nach Alternativen zum Bestehenden und nach einem anderen Leben.
(Text: Kiepenheuer & Witsch Verlag)