Daniel Kehlmann Tyll
- Rowohlt Buchverlag
- Reinbek bei Hamburg 2017
- ISBN 978-3-498-03567-9
- 480 Seiten
- Verlagskontakt
Daniel Kehlmann
Tyll
Der unsterbliche Narr
Daniel Kehlmann hat, darin sind sich Kritiker und Leser einig, nach „Die Vermessung der Welt" (2005), mit „Tyll" erneut einen meisterhaften historischen Roman geschrieben. Ein Buch, das sich sprachlich so ungemein geschmeidig um seine Figuren herumwickelt. Einen Roman, der mit spielerischer Eleganz, einer ungeheuren Begabung für Dialoge und einem Gespür für Komik besticht. Und warum schreibt man einen historischen Roman? Um zu zeigen, dass all das noch nicht lange her ist. In „Tyll" herrscht die größtmögliche künstlerische Freiheit: Kehlmann macht eine reale historische Figur zum Protagonisten, die in Wahrheit in einer anderen Zeit gelebt hat, und platziert sie dort, wo sie seinem Erzählvorhaben am meisten nützt. Denn die Überlieferung besagt, dass Till Eulenspiegel im Jahr 1300 geboren wurde. Eulenspiegel gilt in der Überlieferung als übermäßig intelligente und wortgewaltige Figur, die ihren Mitmenschen Streiche spielte und auf diese Weise deren Unzulänglichkeiten bloßstellte. Kehlmann allerdings setzt ihn mitten ins 17. Jahrhundert hinein, in den Dreißigjährigen Krieg. Und diese Transformation funktioniert allein deswegen so fabelhaft, weil Kehlmann sie innerhalb seiner Romankonstruktion plausibel machen kann.
Die vielleicht stärksten Passagen des Romans sind diejenigen, in denen Kehlmann das Aufwachsen seines Helden in ärmlichen Verhältnissen schildert und zugleich ein Porträt des Vaters schreibt. Der ist ein Müller und ein Autodidakt, der nach nicht weniger als nach dem Weltwissen strebt und in seinen Forschungen keine Unterschiede macht zwischen dem, was naturwissenschaftliche Erkenntnis und was ketzerische Magie sein könnte. Dass er die lateinischen Bücher, die er zu seinen Erkundungen heranzieht, gar nicht verstehen kann, ist eine der vielen bösen Pointen. Es ändert aber auch nichts daran, dass er von den Schergen der katholischen Kirche zunächst unter Folter zu einem Geständnis bewegt und anschließend hingerichtet wird. Von nun an zieht Tyll als Gaukler durch das Land. Die Tyll-Figur wird zum Zentrum des Romans, um das herum Daniel Kehlmann ein breites, von verschiedenen Figuren getragenes Panorama des Dreißigjährigen Krieges aufbaut.
Kehlmann wechselt die Perspektiven. Wir lernen den böhmischen Winterkönig Friedrich V. von der Pfalz kennen, dessen politisches Handeln im Grunde genommen der Auslöser für den Krieg war. Und seine Gattin Elisabeth Stuart, die Kehlmann am Ende des Romans als listenreiche, geschickte Diplomatin auftreten lässt. Wir kommen sehr nahe heran an die letzte große Feldschlacht des Krieges in der Nähe des bayerischen Ortes Zusmarshausen. Und zwischen all diesem Weltgeschehen tanzt Tyll als der ewige Narr umher; als einer, der alles kann und dem auch alles erlaubt ist. Als ein Unsterblicher. Religion, Intrigen, Ränkespiele, Fanatismus, Feigheit. Noch einmal: Das alles ist noch nicht lange her. Oder anders ausgedrückt: Es war noch nie vorbei. Dass Daniel Kehlmann in der literarischen Darstellung der ewigen Konstanten menschlicher Unzulänglichkeiten ganz tief in die Kiste seines handwerklichen Könnens gegriffen hat; dass er die Chronologie ebenso leichthändig aufbricht wie sämtliche Kausalitäten; dass er aus der Literaturgeschichte zitiert, sich Motive borgt und mit ihnen herumspielt wie ein glückliches Kind – all das sei ihm vergönnt.
Zum einen, weil es dem Vergnügen seiner Leser dient. Zum anderen aber, weil Kehlmann mit „Tyll" so etwas wie ein Befreiungsschlag gelungen ist: Endlich stellt sich wieder der Eindruck ein, dass hier nicht einfach nur ein brillanter Autor seine Virtuosität um ihrer selbst willen ausstellt. In „Tyll" verbinden sich Sprache, Form und Stoff zu einem Kunstwerk, das eben mehr ist als ein bloßes Schelmenstück.

Von Christoph Schröder
Christoph Schröder, Jahrgang 1973, arbeitet als freier Autor und Kritiker unter anderem für den Deutschlandfunk, Die Zeit und die Süddeutsche Zeitung.
Inhaltsangabe des Verlags
Tyll Ulenspiegel - Vagant, Schausteller und Provokateur - wird zu Beginn des 17. Jahrhunderts als Müllerssohn in einem kleinen Dorf geboren. Sein Vater, ein Magier und Welterforscher, gerät schon bald mit der Kirche in Konflikt. Tyll muss fliehen, die Bäckerstochter Nele begleitet ihn. Auf seinen Wegen durch das von den Religionskriegen verheerte Land begegnen sie vielen kleinen Leuten und einigen der sogenannten Großen: dem jungen Gelehrten und Schriftsteller Martin von Wolkenstein, der für sein Leben gern den Krieg kennenlernen möchte, dem melancholischen Henker Tilman und Pirmin, dem Jongleur, dem sprechenden Esel Origenes, dem exilierten Königspaar Elisabeth und Friedrich von Böhmen, deren Ungeschick den Krieg einst ausgelöst hat, dem Arzt Paul Fleming, der den absonderlichen Plan verfolgt, Gedichte auf Deutsch zu schreiben, und nicht zuletzt dem fanatischen Jesuiten Tesimond und dem Weltweisen Athanasius Kircher, dessen größtes Geheimnis darin besteht, dass er seine aufsehenerregenden Versuchsergebnisse erschwindelt und erfunden hat. Ihre Schicksale verbinden sich zu einem Zeitgewebe, zum Epos vom Dreißigjährigen Krieg. Und um wen sollte es sich entfalten, wenn nicht um Tyll, jenen rätselhaften Gaukler, der eines Tages beschlossen hat, niemals zu sterben.
(Text: Rowohlt Buchverlag)