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Das süße Gift des Konformismus

Die „tintenblauen Kreise“ sind ein besonderer Schmuck, der nicht jedem zuteilwird. Die 12-jährige Sabine, die in ihrer Straße und von den Freunden nur „Biene“ genannt wird, malt sie nur den Menschen auf den Unterarm, die sie aus tiefstem Herzen mag. Beere ist zum Beispiel so ein Freund.  Wenn er im Leguan, dem kleinen Café, das Bienes Eltern betreiben, zu Gast ist, krempelt er gleich die Hemdsärmel hoch, Biene zückt den Kugelschreiber und beginnt, ihm Ornamente oder Tiere auf die Haut zu malen. In pures Glück und Sonnenschein ist Bienes Leben getaucht, sie hat Eltern, die liebevoll mit ihr umgehen, und vor allem besitzt Biene einen großen Welthunger. Der stößt zwangsläufig auch auf die dunklen Seiten des Daseins. So trägt Beere etwa einen großen Kummer mit sich herum, da sein dreijähriger Sohn Jan am Herzen operiert werden soll, und niemand weiß, ob Jan diesen Eingriff überleben wird.
 
Biene will wissen, was nach dem Tod geschieht. Das ist der eine Erzählstrang in Michael Rohers Roman. Sein Text präsentiert uns mit Biene eine Erzählerin, die es genießt, von allen gemocht zu werden und die dabei doch ganz eigene Wege zu gehen vermag. Kinderliteratur kann in eine freundliche, glückssatte Welt getaucht sein und doch ohne jeden Anflug von Kitsch funktionieren. Ohne Konflikte geht es jedoch auch dort nicht, und die entwickelt Roher subtil. In der Schule zählen Biene und ihre Freundin Shirin zu den „beliebten“ Kindern, ganz im Gegensatz zu Phillip, dem dünnen Jungen mit den roten Haaren. Er ist der Neue und wird von Tenka, dem Sohn des wohlhabenden Arztes, gequält. Erst mit Worten, dann mit „Streichen“, die Jungsclique gießt ihm Tinte in die Schultasche. Phillips Bücher sind ruiniert, und er trägt einen tintenblauen Kreis auf der Nase.
 
Gerade von diesem Jungen, der so besonders gut malen kann, erfährt Biene etwas über das Sterben. Phillip fasziniert sie, noch bevor sie selbst es bemerkt. Michael Roher zeigt, wie es in seiner Erzählerin arbeitet. Es treibt sie um, dass Phillip eine Demütigung nach der anderen einsteckt, ohne sich zu wehren. Zugleich bildet sich eine Koalition der Gleichgültigkeit in der Klasse. Auch Shirin findet, wer ein solcher Schlappschwanz sei, dem brauche man nicht zu helfen, der hat es nicht besser verdient. In Rohers sonnendurchflutetem Buch öffnet sich ein Abgrund, da die Klasse den vermeintlich Schwächsten nicht aufzufangen vermag. Und die sonst so schlagfertige Biene, die Phillip und dessen schwierige Familienverhältnisse kennengelernt hat und ihm beim gemeinsamen Schwimmen ganz nah gekommen ist, bleibt verhalten. Der süßen Untätigkeit des Konformismus scheint auch sie zu erliegen.
 
Zwischen den Zeilen, lässt uns Roher spüren, dass Biene Phillips Schwäche nicht ertragen kann. Wenn sie mit ihm spricht, entfährt ihr mitunter ein harscher Ton, der ihn verletzt. Die Zwischentöne sind in dieser Prosa durchweg fein gesetzt, ganz so, wie die sensiblen Illustrationen des Autors. Dessen Protagonistin erzählt gleichwohl erfrischend geradlinig. Wenn auch nicht alles ausgeplaudert werden muss, so dass noch Raum für Überraschungen und die entsprechende Dramatik bleibt. Man spürt, die 12-Jährige muss diese Geschichte erzählen, immerhin geht es um die Liebe, und für die gibt es in diesem Alter noch keine körperliche Entsprechung. Aber – so viel darf verraten werden – Michael Roher hat ein kluges Ende für seinen Roman und seine beiden Protagonisten parat.
 
Buchcover Tintenblaue Kreise

Von Thomas Linden

​Thomas Linden arbeitet als Journalist (Kölnische Rundschau, WWW.CHOICES.DE) in den Bereichen Literatur, Theater und Film und konzipiert als Kurator Ausstellungen zur Fotografie und zur Bilderbuchillustration.