Heike B. Görtemaker Hitlers Hofstaat. Der innere Kreis im Dritten Reich und danach
- C.H.Beck Verlag
- München 2019
- ISBN 978-3-406-73527-1
- 528 Seiten
- Verlagskontakt
Heike B. Görtemaker
Hitlers Hofstaat. Der innere Kreis im Dritten Reich und danach
Polnische Rechte bereits vergeben
Hitlers Ersatzfamilie
Görtemaker unterscheidet zwei Phasen für den inneren Kreis um Hitler: vor und nach 1933. Tatsächlich wurde der Aufstieg Hitlers im Laufe der zwanziger Jahre ganz wesentlich von anderen Figuren in die Wege geleitet. Als einer von vielen war Hitler nach der Revolution von 1918 in der völkischen Bewegung aufgetaucht, aber schon früh auf einflussreiche Förderer gestoßen. Das Verlegerpaar Hugo und Elsa Bruckmann finanzierte ebenso wie die Klavierfabrikanten Edwin und Helene Bechstein begeistert den mittellosen Agitator, alsbald Chef einer skurrilen Splitterpartei namens NSDAP; wenige Wochen vor seinem gescheiterten Putschversuch im November 1923 lernte Hitler in Bayreuth Winifred Wagner und den Rasseideologen Houston Stewart Chamberlain kennen. Elsa, Helene und Winifred wurden treue Fans: Sie besuchten Hitler während seiner Festungshaft, finanzierten später seine Münchner Wohnung, statteten ihn mit Kleidung und Tischservice aus und organisierten ihm den Zugang zu den besseren Kreisen. Immer wieder erschreckend ist es, wie besessen antisemitisches Kulturbürgertum diesen Radikalen gesellschaftsfähig machte.
Zu Hitlers Entourage gehörten ansonsten höchst unterschiedliche Gestalten: fanatische Nationalsozialisten wie Rudolf Hess, militante Organisatoren wie SA-Chef Ernst Röhm (dessen Ermordung 1934 zum Einschnitt für den engeren Zirkel werden sollte), Hermann Esser, treuer „alter Kämpfer“, der sich später erinnerte, wie er einst täglich mit Hitler für 30 Pfennige in der Volksküche zu Mittag aß, windige Figuren wie Ernst Hanfstaengl und vor allem Heinrich Hoffmann, Hitlers „Leibfotograph“ seit 1921. Seine kreativen Bildideen schufen den visuellen Hitler-Mythos, machten den NSDAP-Führer spätestens 1930 zum hochmodernen Wahlkampfartikel und verhalfen ihm propagandistisch zur Machtergreifung. Bei der Hochzeit seiner Tochter Henriette mit Baldur von Schirach im Jahr 1932 waren Hitler und Röhm Trauzeugen (ein Amt, das Hitler oft im Kreis ausübte).
Nach 1933/34 änderte sich der innere Kreis. Hitler, der die Gegend um Berchtesgaden schon immer mochte, baute sich dort alsbald eine Alpenresidenz, den Berghof. Mit der Konsolidierung des Regimes zog er sich immer länger auf den Obersalzberg zurück, die Berghof-Gemeinschaft wurde zu einer Ersatzfamilie: mit Eva Braun, Hoffmanns einstiger Fotolaborantin, deren Schwestern, mit alten und neuen Gestalten. Bald wurde in der internationalen Presse über das Refugium des deutschen Machthabers berichtet, unter anderem mit Fotostrecken von Hoffmann in der „Vogue“ und dem „New York Times Magazine“. Für die Öffentlichkeit blieb Hitler dennoch der propagandistisch inszenierte einsame Führer, über seine Ersatzfamilie – und schon gar nicht über Eva – sollte nichts nach draußen dringen. Hitlers persönliches Nahverhältnis zum Architekten Albert Speer, in dem er einen künstlerischen Seelenverwandten sah, sowie zu den Ärzten Karl Brandt und Theodor Morell wuchs. Wenn der Führer Gesellschaft brauchte, eilte der Hofstaat aus Berlin oder München zum Berghof.
Als „die schönste Zeit seines Lebens“ empfand Hitlers Adjutant Nicolaus von Below seine Vorkriegszeit auf dem Obersalzberg im Rückblick. Virtuos schildert Görtemaker das Chaos der letzten Tage des Regimes, zwischen Führerbunker und Berghof, wo ein anderer Adjutant, Julius Schaub, Hitlers Unterlagen auf der Terrasse verbrannte.
Nach 1945 setzte das große Vertuschen ein. Ob Adjutanten, Ärzte oder Sekretärinnen, ob Speer oder Hoffmann: Alle präsentierten sich als unpolitische Chargen, die nichts vom Holocaust gewusst hätten. Görtemaker rekonstruiert minutiös ein anderes Bild des Kreises: Allesamt waren es oft langjährige ideologisch überzeugte NSDAP-Mitglieder, Täter und Mitwisserinnen, im Herrschaftsalltag überall dabei, dem „Chef“ treu ergeben bis in den Führerbunker 1945 – und darüber hinaus. Viele Überlebende des Berghof-Kreises blieben im ständigen Austausch untereinander. Nicolaus von Below starb 1983 – sein Sohn berichtet, wie die Kinder bis dahin im „System“ des Vaters aufwuchsen. Hitlers langer Schatten, mitten in der Bundesrepublik.

Von Alexander Cammann
Inhaltsangabe des Verlags
Hitler war kein einsamer, unnahbarer Diktator. Seit seinem Aufstieg in der NSDAP scharte er einen Loyalen Kreis um sich, der nach der nationalsozialistischen Übernahme die Züge eines regelrechten Hofstaats annahm. Hier wurde gefeiert, geschmeichelt und intrigiert.
Wer gehörte zum innersten Kreis um Hitler? Welche Funktion erfüllte dieser Hofstaat? Und wie beeinflusste er das Geschichtsbild nach 1945? Auf der Grundlage bisher unbekannter Quellen erforscht Heike Görtemaker Hitlers privates Umfeld und zeigt, wie sein Kreis ihn zu dem machte, der er war. Ihr Buch rückt bis in die nächste Nähe zu Hitler vor und ist zugleich eine brillante Dekonstruktion des Führermythos.
"Wenn Sie abziehen, was Politik an ihm ist, bleibt wenig oder nichts", urteilte Ian Kershaw über Hitler, und Joachim Fest behauptete: "Ein Privatleben hatte er nicht." Für Alan Bullock war der "Führer" ein "Entwurzelter ohne Heim und Familie". Doch damit gingen seine Biographen der Selbstinszenierung Hitlers auf den Leim. Sein innerer Kreis, die Berghof-Gesellschaft, war sein privater Rückzugsraum. Doch der Hofstaat war mehr als das. Er gab Hitler erst den nötigen Rückhalt, um die Rolle des "Führers" überhaupt ausfüllen zu können. Er produzierte Vertrauensleute, die Hitler politisch nutzen konnte. Und er stellte eine verschworene Gemeinschaft dar, deren kleinster gemeinsamer Nenner im Antisemitismus bestand.Heike Görtemaker leistet in diesem Buch Pionierarbeit: Sie erschließt zahlreiche bisher unbekannte Quellen, stellt neue Fragen an das alte Material und erforscht erstmals auch den "Kreis ohne Führer", die Vernetzung des inneren Zirkels nach 1945.
(Text: C.H.Beck Verlag)