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Buchcover Hitlers Hofstaat. Der innere Kreis im Dritten Reich und danach

Heike B. Görtemaker Hitlers Hofstaat. Der innere Kreis im Dritten Reich und danach

Heike B. Görtemaker
Hitlers Hofstaat. Der innere Kreis im Dritten Reich und danach

Griechische Rechte bereits vergeben

Hitlers Ersatzfamilie

Mitarbeiter und Vertrauter von Adolf Hitler: Wer war das eigentlich? Und welche Rollen spielten sie im Machtgefüge des „Dritten Reiches“? Die Lebensgeschichten der wichtigsten NS-Führungsfiguren wurden bereits gründlich erforscht; über Hitler selbst gibt es mehrere bedeutende Biographien. Jetzt hat die Historikerin Heike B. Görtemaker erstmals den engsten Kreis um Hitler systematisch durchleuchtet. 2010 veröffentlichte sie die erste Biographie von Eva Braun, Hitlers langjähriger inoffizieller Lebensgefährtin; sie hat naturgemäß auch im neuen Buch ihre Auftritte. „Hitlers Hofstaat“ heißt es treffend, die Autorin hat dafür noch einmal Archive durchforstet, bislang kaum bekannte Quellen aufgetan. Es ist eine spannende Erzählung voller aufschlussreicher Details geworden, die den Alltag an der Spitze eines verbrecherischen Systems offenbart.
 
Görtemaker unterscheidet zwei Phasen für den inneren Kreis um Hitler: vor und nach 1933. Tatsächlich wurde der Aufstieg Hitlers im Laufe der zwanziger Jahre ganz wesentlich von anderen Figuren in die Wege geleitet. Als einer von vielen war Hitler nach der Revolution von 1918 in der völkischen Bewegung aufgetaucht, aber schon früh auf einflussreiche Förderer gestoßen. Das Verlegerpaar Hugo und Elsa Bruckmann finanzierte ebenso wie die Klavierfabrikanten Edwin und Helene Bechstein begeistert den mittellosen Agitator, alsbald Chef einer skurrilen Splitterpartei namens NSDAP; wenige Wochen vor seinem gescheiterten Putschversuch im November 1923 lernte Hitler in Bayreuth Winifred Wagner und den Rasseideologen Houston Stewart Chamberlain kennen. Elsa, Helene und Winifred wurden treue Fans: Sie besuchten Hitler während seiner Festungshaft, finanzierten später seine Münchner Wohnung, statteten ihn mit Kleidung und Tischservice aus und organisierten ihm den Zugang zu den besseren Kreisen. Immer wieder erschreckend ist es, wie besessen antisemitisches Kulturbürgertum diesen Radikalen gesellschaftsfähig machte.

Zu Hitlers Entourage gehörten ansonsten höchst unterschiedliche Gestalten: fanatische Nationalsozialisten wie Rudolf Hess, militante Organisatoren wie SA-Chef Ernst Röhm (dessen Ermordung 1934 zum Einschnitt für den engeren Zirkel werden sollte), Hermann Esser, treuer „alter Kämpfer“, der sich später erinnerte, wie er einst täglich mit Hitler für 30 Pfennige in der Volksküche zu Mittag aß, windige Figuren wie Ernst Hanfstaengl und vor allem Heinrich Hoffmann, Hitlers „Leibfotograph“ seit 1921. Seine kreativen Bildideen schufen den visuellen Hitler-Mythos, machten den NSDAP-Führer spätestens 1930 zum hochmodernen Wahlkampfartikel und verhalfen ihm propagandistisch zur Machtergreifung. Bei der Hochzeit seiner Tochter Henriette mit Baldur von Schirach im Jahr 1932 waren Hitler und Röhm Trauzeugen (ein Amt, das Hitler oft im Kreis ausübte).

Nach 1933/34 änderte sich der innere Kreis. Hitler, der die Gegend um Berchtesgaden schon immer mochte, baute sich dort alsbald eine Alpenresidenz, den Berghof. Mit der Konsolidierung des Regimes zog er sich immer länger auf den Obersalzberg zurück, die Berghof-Gemeinschaft wurde zu einer Ersatzfamilie: mit Eva Braun, Hoffmanns einstiger Fotolaborantin, deren Schwestern, mit alten und neuen Gestalten. Bald wurde in der internationalen Presse über das Refugium des deutschen Machthabers berichtet, unter anderem mit Fotostrecken von Hoffmann in der „Vogue“ und dem „New York Times Magazine“. Für die Öffentlichkeit blieb Hitler dennoch der propagandistisch inszenierte einsame Führer, über seine Ersatzfamilie – und schon gar nicht über Eva – sollte nichts nach draußen dringen. Hitlers persönliches Nahverhältnis zum Architekten Albert Speer, in dem er einen künstlerischen Seelenverwandten sah, sowie zu den Ärzten Karl Brandt und Theodor Morell wuchs. Wenn der Führer Gesellschaft brauchte, eilte der Hofstaat aus Berlin oder München zum Berghof.

Als „die schönste Zeit seines Lebens“ empfand Hitlers Adjutant Nicolaus von Below seine Vorkriegszeit auf dem Obersalzberg im Rückblick. Virtuos schildert Görtemaker das Chaos der letzten Tage des Regimes, zwischen Führerbunker und Berghof, wo ein anderer Adjutant, Julius Schaub, Hitlers Unterlagen auf der Terrasse verbrannte.

Nach 1945 setzte das große Vertuschen ein. Ob Adjutanten, Ärzte oder Sekretärinnen, ob Speer oder Hoffmann: Alle präsentierten sich als unpolitische Chargen, die nichts vom Holocaust gewusst hätten. Görtemaker rekonstruiert minutiös ein anderes Bild des Kreises: Allesamt waren es oft langjährige ideologisch überzeugte NSDAP-Mitglieder, Täter und Mitwisserinnen, im Herrschaftsalltag überall dabei, dem „Chef“ treu ergeben bis in den Führerbunker 1945 – und darüber hinaus. Viele Überlebende des Berghof-Kreises blieben im ständigen Austausch untereinander. Nicolaus von Below starb 1983 – sein Sohn berichtet, wie die Kinder bis dahin im „System“ des Vaters aufwuchsen. Hitlers langer Schatten, mitten in der Bundesrepublik.

Von Alexander Cammann