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Buchcover Die Nacht der Physiker

Richard von Schirach Die Nacht der Physiker – Heisenberg, Hahn, Weizsäcker und die deutsche Bombe

Mit Förderung von Litrix.de auf Russisch erschienen.

Buchbesprechung

​ Am Morgen des 6. August 1945 wird aus einem US-Militärflugzeug die erste Atombombe über der japanischen Stadt Hiroshima abgeworfen. Ein riesiger Pilz aus grau-rotem Rauch steigt auf, im Inneren herrscht eine Temperatur von einer Million Grad Celsius. Im Umkreis von 800 Metern endet jedes Leben. Menschen verbrennen innerhalb von Sekunden zu schwarzen Kohleklumpen, Vögel und Insekten sind mit einem kurzen Knistern verschwunden. Unmittelbar nach der Detonation wird die Zahl der Toten auf 140.000 geschätzt. Fünf Jahre später zählt man die Strahlenopfer hinzu und kommt auf 200.000 Menschenleben, die "Little Boy" - so der amerikanische Kosename der Bombe - vernichtet hat.

Zum Zeitpunkt der Katastrophe befinden sich zehn der namhaftesten deutschen Wissenschaftler auf dem britischen Landgut Farm Hall in Gewahrsam der Alliierten. Tag und Nacht werden Otto Hahn, Werner Heisenberg, Carl Friedrich von Weizsäcker sowie sieben weitere Physiker abgehört. Alle zehn waren bis vor kurzem als Geheimnisträger des nationalsozialistischen "Uranprojekts" damit beschäftigt, den jüngsten Erkenntnisstand der Atomphysik für Hitlers Krieg nutzbar zu machen. (Dass sich der wissenschaftliche und militärstrategische Nutzen dieser Überwachung in Grenzen halten würde, war den Briten von Anfang an klar. Denn entgegen hartnäckiger Gerüchte um Hitlers letzte Geheimwaffe - entdeckten die Alliierten bei der Festnahme der Physiker keine Atombombe. Bei den Aufzeichnungen, die das britische Abhörteam im Lauf eines halben Jahres anfertigte, handelt es sich dennoch um ein einzigartiges zeithistorisches Dokument.
Richard von Schirach hat sich die sogenannten Farm-Hall-Protokolle noch einmal ganz genau angesehen und darin Erhellendes und Abgründiges über das Seelenleben der Forscherelite des Dritten Reichs entdeckt. "Die Nacht der Physiker" lautet der Titel des vielschichtigen, wissenschaftshistorischen Psychogramms, in dessen eindrucksvollster Passage Schirach rekonstruiert, was in den Farm-Hall-Insassen vorgeht, als sie an jenem Abend aus den BBC-Nachrichten von der Katastrophe in Hiroshima erfahren.

Folgt man der materialreich gestützten Darstellung, reagieren alle zunächst mit Ungläubigkeit. Die Atombombendetonation über Hiroshima wird reflexartig als amerikanische Kriegspropaganda abgetan. Darauf folgt die schmerzliche Ernüchterung: Bis gerade eben hatten sich die zehn Deutschen für konkurrenzlose Spitzenreiter auf dem Gebiet der Atomphysik gehalten. Nun müssen sie diesen Platz an die USA abtreten.
Mit suggestiver Zurückhaltung legt Schirach nach und nach die Mechanismen frei, mit denen jeder einzelne versucht, die Kränkung seines Forscher-Egos zu verarbeiten. Die menschliche Dimension der Katastrophe scheint am stärksten bei Otto Hahn ins Bewusstsein zu treten. Nicht zuletzt weil er 1938 zusammen mit der vor den Nazis als Jüdin verfolgten Lise Meitner die Kernspaltung entdeckt hatte, fühlt er sich für die Hiroshima-Opfer mitverantwortlich. Von bitteren Selbstvorwürfen geplagt, empfindet es der einzige Chemiker der Gruppe als unerträglich, wie die anderen ihre narzisstischen Wunden lecken: "Ihr seid zweitklassig", verhöhnt Hahn seine Physikerkollegen. Ganz anders verhalten sich Heisenberg und der damals 33-jährige Weizsäcker. Die "Schmach" wird von ihnen zum moralischen Verdienst umgedeutet. Man hätte die Bombe sehr wohl bauen können, lautet ihre Rechtfertigung vor sich selbst und der Welt, doch habe man das Wissen aus innerem Widerstand gegen Hitler nicht umgesetzt. Bereits am 8. August - dem Tag bevor die Amerikaner über Nagasaki eine weitere Bombe abwerfen - ist dies die offizielle Sprachregelung der Gruppe. Auch Hahn unterzeichnet die von Heisenberg verfasste Presseerklärung.

Richard von Schirach ist keineswegs der Erste, der sich an eine Demontage der zählebigen Legende von der heroischen Selbstbeschränkung der Physikerelite im Dritten Reich wagt. Doch entlarvt er diesen Mythos mit bemerkenswertem dramaturgischem Geschick. Schirach untermauert seine Kritik durch detaillierte historische Ausführungen. Demnach ist der Bau der deutschen Atombombe nicht an der Gesinnung der Wissenschaftler gescheitert, sondern an einer allzu theorielastigen Herangehensweise und einem Mangel an Ressourcen. Nach der kriegswirtschaftlich desaströsen Schlacht von Stalingrad 1942 kürzte Rüstungsminister Albert Speer das Budget des bis dato wenig ergiebigen Bombenprojekts drastisch. Man konzentrierte sich von nun an auf die Aufrüstung der U-Boot-Flotte. In den USA hingegen wurden ab 1942 alle verfügbaren Mittel in den Bau der Atombombe gesteckt, die ursprünglich über Hitler-Deutschland statt über Japan detonieren sollte.
Kurz nachdem die Farm-Hall-Protokolle 1993 veröffentlicht wurden, nahm der greise Weizsäcker seine Aussage über den freiwilligen Verzicht, die Bombe zu bauen in einem Interview wieder zurück. Doch an seiner Selbststilisierung zum kämpferischen NS-Regimegegner hielt er nach wie vor fest. Folgt man Schirachs Zusammenfassung des Interviews auf der letzten Seite, träumte Weizsäcker noch gegen Kriegsende den "geheimen Traum, die Bombe als eine Art Faustpfand im Widerstand gegen Hitler einzusetzen". Es spricht einiges dafür, dass dieser Traum sich in Gestalt eines Albtraums verwirklicht hätte.  

„Die Nacht der Physiker“: Die Zeit der großen Ideologien ist vorbei
Buchcover Die Nacht der Physiker

Von Marianna Lieder

​Marianna Lieder ist seit 2011 Redakteurin beim „Philosophie Magazin“. Als freie Journalistin und Literaturkritikerin arbeitet sie u. a. für den Tagesspiegel, die Stuttgarter Zeitung und Literaturen.