Schnelleinstieg: Zum Inhalt springenZur Hauptnavigation springenZur Sprachnavigation springen

Buchcover Das letzte Jahr. Aufzeichnungen aus einem ungültigen Land

Martin Gross Das letzte Jahr. Aufzeichnungen aus einem ungültigen Land

Übersetzungsförderung
Mit Förderung von Litrix.de auf Griechisch erschienen.

Flaschenpost aus der Zwischenzeit

Wie der „Schatz des Priamos“ erschien dem Leipziger Verleger Jan Wenzel das Buch, das er in einem Online-Antiquariat fand, als er  einen Sammelband zum 30. Jahrestag der deutsch-deutschen Wiedervereinigung vorbereitete. Und tatsächlich: „Das letzte Jahr“ von Martin Gross, 1992 zuerst erschienen und damals kaum beachtet, wurde nach der Neuauflage im Herbst 2020 als Glücksfall einer späten literarischen Entdeckung gefeiert.
 
Der Autor, 1952 im Schwarzwald geboren, lebt heute als Germanist und Schriftsteller zurückgezogen in einem niedersächsischen Dorf. Ein Reportageauftrag hatte ihn Anfang 1990 nach Dresden geführt, und er entschloss sich dann spontan, ein ganzes Jahr zu bleiben, um mit Beobachtungen, Gesprächen und Reflexionen die letzte Lebensphase des DDR-Staates zu begleiten. Seine „Aufzeichnungen aus einem ungültigen Land“, wie eine Flaschenpost in die Gegenwart gespült, werden mittlerweile als eines der wichtigsten Dokumente jenes epochalen Umbruchs betrachtet.
 
Es war das Jahr, in dem die Wende-Euphorie in Ostdeutschland der ersten Enttäuschung gewichen war, einer Stimmung voller Zweifel, Unsicherheit und beginnender Depression. Ein Staat zerfiel nach mehr als 40 Jahren, Millionen Biografien wurden aus ihrer Verankerung gerissen, und die rasche Vereinnahmung durch das westlich-kapitalistische Wirtschaftssystem schien die einzige Alternative zu dem gescheiterten politischen Experiment zu sein, dessen Spuren nun eilig getilgt werden sollten. Aber noch wurde das Tempo der Transformation gebremst durch traditionelle, langsamer getaktete Lebensweisen, die hier nicht so gründlich umgepflügt worden waren wie im Westen: „Es ist, als begegneten sich für einen Augenblick die erste und die zweite Jahrhunderthälfte.“
 
In diesem flüchtigen Intervall „vor dem Einmarsch der Baukolonnen“ traf Martin Gross in der Noch-DDR auf Menschen, die eine große Offenheit und Gesprächsbereitschaft zeigten und ihm, dem stillen westdeutschen Chronisten, im Windschatten der medialen Berichterstattung anvertrauten, wie sie die Veränderungen erlebten. Der Autor anonymisierte diese Begegnungen, was ihre lebendige Authentizität nicht schmälert. Er erhielt Einblick in betriebliche, bürokratische und private Milieus, beobachtete die radikale Umschichtung von Kompetenzen und Hierarchien, den forcierten Ausverkauf und die Anpassung der Verhaltensweisen, den stufenlosen Übergang von der Staatspropaganda zur Ideologie des Geldes und des Konsums, bis hin zu Symptomen der „Degradierung, Entmündigung, Ausplünderung“.
 
Der ebenso unauffällige wie aufmerksame Zeitzeuge lauschte auf Zwischentöne und zog hellsichtige Schlüsse auch aus dem scheinbar Nebensächlichen. So entstand eine atmosphärisch dichte Mischform aus Tagebuch, Reportage, Essay und Briefroman, notiert in einer klaren, anschaulichen Sprache, in der Empathie, Melancholie und leise Ironie gleichermaßen aufgehoben sind. Doch nicht nur zum Verständnis der jüngeren Geschichte und politischen Gegenwart Deutschlands liefert das Buch einen kostbaren Beitrag: Es offenbart, dass 1990 ein Jahr der Weichenstellungen war, die bis heute weit in den europäischen und globalen Kontext hineinreichen und die, wie Martin Gross damals fast prophetisch erkannte, „den ultimativen Beginn der Weltwirtschaft“ markierten. 
Buchcover Das letzte Jahr. Aufzeichnungen aus einem ungültigen Land

Von Kristina Maidt-Zinke

​Kristina Maidt-Zinke ist Literatur- und Musikkritikerin der Süddeutschen Zeitung und rezensiert für Die Zeit.