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Buchcover Dämonenräumdienst

Marcel Beyer Dämonenräumdienst

Übersetzungsförderung
Für diesen Titel bieten wir eine Übersetzungs­förderung ins Griechische (2019 - 2021) an.
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Furioser Geisterreigen

Dass der Peter-Huchel-Preis, die renommierteste Auszeichnung für deutschsprachige Lyrik, in diesem Jahr an Marcel Beyer ging, war keine Überraschung: Sein „Dämonenräumdienst“ schlug bei der Jury alle konkurrierenden Gedichtbände mühelos aus dem Feld. Erstaunen mag allenfalls, dass der Autor diesen Preis noch nicht besaß. Denn Beyer, der 1965 auf der Schwäbischen Alb geboren wurde und in Köln lebte, bis er 1996 nach Dresden übersiedelte, hat als Lyriker, Romancier, Erzähler und Essayist in drei Jahrzehnten fast alle Trophäen empfangen, die der deutsche Literaturbetrieb vergibt, darunter auch die bedeutendste, den Georg-Büchner-Preis. In der Begründung hieß es im Jahr 2016: „Seine Texte widmen sich der Vergegenwärtigung deutscher Vergangenheit mit derselben präzisen Hingabe, mit der sie dem Sound der Jetztzeit nachspüren.“
 
Der Begriff „Sound“ ist wesentlich für Beyers poetisches Verfahren. Das betrifft nicht nur seine Affinität zur Musik, sondern auch seinen kreativen Umgang mit der akustischen Dimension der Sprache und mit dem Resonanzraum von Wörtern, Namen, Slogans oder Sentenzen. Für den Band „Dämonenräumdienst“ hat er vor allem dem Sound nachgespürt, der seine eigene westdeutsche Jugend prägte, und ihn für die Jetztzeit neu arrangiert – schräg, ironisch gebrochen und oft surreal verfremdet, doch frappierend wiedererkennbar.
 
Das Material fand der Autor beim Aufräumen seines Archivs und im Speicher seiner Erinnerung. Die „Dämonen“, die er vor seinem inneren Auge auf- und wieder abtreten lässt, um sie so gleichsam zu bannen, sind bisweilen unheimlich, aber nur selten bedrohlich. Sie entsprechen insofern dem „daimon“ der griechischen Mythologie, als sie prinzipiell weder gut noch böse sind. Es erscheinen Geister von Verstorbenen, von Künstlern und großen Dichterkollegen, von Stars des Boulevards und Helden der Populärkultur, die als Wiedergänger ihren Schabernack treiben oder nicht zur Ruhe kommen, weil die Nachwelt sie immer wieder herbeiruft. Dämonen in diesem Sinne sind aber auch Filmfiguren und Fabelwesen, Kindheitsbilder, Szenen und Phantasmen aller Art, die so lange im Unterbewusstsein des Schriftstellers herumgeistern, bis er sie mittels der Sprache einhegt.
 
Das geschieht hier in einer strengen Form von jeweils zehn vierzeiligen Strophen, die über 76 Gedichte durchgehalten wird. Innerhalb dieser Schranken lässt Beyer seine schwankenden Gestalten tanzen und irrlichtern; sie nehmen oft täuschende Posen ein und locken den Leser listig an Abgründe, um dann ihre Larve herunterzureißen, hinter der sich verborgene Zusammenhänge auftun. Mit Wortungetümen und Satzmäandern erzeugt der Dichter hohe Komik und subtile Schockwirkungen, akrobatisch balancierend zwischen Gesellschaftsanalyse und purer Erfindungslust.
 
Erfindungsreich müsste auch sein, wer diesen lyrischen Geisterreigen übersetzt, doch könnte er oder sie, wie Beyer selbst, in dem klar strukturierten Rahmen sehr beweglich bleiben, mit freien Rhythmen und unvermittelt wechselnden Hebungen, mit variabler Handhabung von End- und Binnenreim, Alliteration und Assonanz, solange die starken Klangeffekte und die furiose Kraft des Originals transportiert werden. Die Galerie der Dämonen, von Hölderlin bis Elvis Presley und von Joseph Beuys bis Micky Maus, hat ohnehin internationales Format.
Buchcover Dämonenräumdienst

Von Kristina Maidt-Zinke

​Kristina Maidt-Zinke ist Literatur- und Musikkritikerin der Süddeutschen Zeitung und rezensiert für Die Zeit.