Marcel Beyer Dämonenräumdienst
- Suhrkamp Verlag
- Berlin 2020
- ISBN 978-3-518-42945-7
- 173 Seiten
- Verlagskontakt
Für diesen Titel bieten wir eine Übersetzungsförderung ins Griechische (2019 - 2021) an.
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Furioser Geisterreigen
Der Begriff „Sound“ ist wesentlich für Beyers poetisches Verfahren. Das betrifft nicht nur seine Affinität zur Musik, sondern auch seinen kreativen Umgang mit der akustischen Dimension der Sprache und mit dem Resonanzraum von Wörtern, Namen, Slogans oder Sentenzen. Für den Band „Dämonenräumdienst“ hat er vor allem dem Sound nachgespürt, der seine eigene westdeutsche Jugend prägte, und ihn für die Jetztzeit neu arrangiert – schräg, ironisch gebrochen und oft surreal verfremdet, doch frappierend wiedererkennbar.
Das Material fand der Autor beim Aufräumen seines Archivs und im Speicher seiner Erinnerung. Die „Dämonen“, die er vor seinem inneren Auge auf- und wieder abtreten lässt, um sie so gleichsam zu bannen, sind bisweilen unheimlich, aber nur selten bedrohlich. Sie entsprechen insofern dem „daimon“ der griechischen Mythologie, als sie prinzipiell weder gut noch böse sind. Es erscheinen Geister von Verstorbenen, von Künstlern und großen Dichterkollegen, von Stars des Boulevards und Helden der Populärkultur, die als Wiedergänger ihren Schabernack treiben oder nicht zur Ruhe kommen, weil die Nachwelt sie immer wieder herbeiruft. Dämonen in diesem Sinne sind aber auch Filmfiguren und Fabelwesen, Kindheitsbilder, Szenen und Phantasmen aller Art, die so lange im Unterbewusstsein des Schriftstellers herumgeistern, bis er sie mittels der Sprache einhegt.
Das geschieht hier in einer strengen Form von jeweils zehn vierzeiligen Strophen, die über 76 Gedichte durchgehalten wird. Innerhalb dieser Schranken lässt Beyer seine schwankenden Gestalten tanzen und irrlichtern; sie nehmen oft täuschende Posen ein und locken den Leser listig an Abgründe, um dann ihre Larve herunterzureißen, hinter der sich verborgene Zusammenhänge auftun. Mit Wortungetümen und Satzmäandern erzeugt der Dichter hohe Komik und subtile Schockwirkungen, akrobatisch balancierend zwischen Gesellschaftsanalyse und purer Erfindungslust.
Erfindungsreich müsste auch sein, wer diesen lyrischen Geisterreigen übersetzt, doch könnte er oder sie, wie Beyer selbst, in dem klar strukturierten Rahmen sehr beweglich bleiben, mit freien Rhythmen und unvermittelt wechselnden Hebungen, mit variabler Handhabung von End- und Binnenreim, Alliteration und Assonanz, solange die starken Klangeffekte und die furiose Kraft des Originals transportiert werden. Die Galerie der Dämonen, von Hölderlin bis Elvis Presley und von Joseph Beuys bis Micky Maus, hat ohnehin internationales Format.

Von Kristina Maidt-Zinke
Kristina Maidt-Zinke ist Literatur- und Musikkritikerin der Süddeutschen Zeitung und rezensiert für Die Zeit.
Inhaltsangabe des Verlags
Auf der Saftbühne wird etwas aufgeführt. Hildegard Knef steigt ins Auto. Rudolph Moshammer trägt seinen Yorkshire Terrier durch München. S. T. Coleridge macht einen Witz über Köln. Kunstwerke verschwinden. Etwas rüttelt am Fenster. Morgens, mittags, nachts. Der Amselpapst. Die Leute fangen an, Sachen zu reden. Am Wertstoffhof läuft Musik. Elvis fegt noch einmal die Einfahrt. Ich lese nur noch Pferdekrimis und suche die Sprache im grauen Bereich. Das Schlaflabor am Potsdamer Platz. Weißdorn, Majoran, Ginster...
Unerhörtes trägt sich zu in den lange erwarteten neuen Gedichten von Marcel Beyer. In jedem einzelnen der exakt vierzig Verszeilen langen Poeme nimmt sich eine andere Figur jede Freiheit, die die strenge Begrenzung ihr lässt, erzählt Geschichten, paraphrasiert Übersetzungen, stellt Reihungen an - kurz: Sie treiben es bunt, manchmal auch wild, so dass am Ende gesagt werden muss: Es wird ernst! Es wird Zeit, den Dämonenräumdienst zu rufen.
(Text: Suhrkamp Verlag)