Hannah Brinkmann Gegen mein Gewissen
- avant Verlag
- Berlin 2020
- ISBN 978-3-96445-040-1
- 232 Seiten
- Verlagskontakt
Für diesen Titel bieten wir eine Übersetzungsförderung ins Griechische (2019 - 2021) an.
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Hermanns Geschichte. Hannah Brinkmanns Graphic Novel „Gegen mein Gewissen“
„Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden.“ 1949, zur Gründung des jungen westdeutschen Staates, schien Artikel 4, Absatz 3 des Grundgesetzes noch unproblematisch. Wer dachte schon nach der Menschheitstragödie von NS-Zeit und Weltkrieg an die Einführung einer allgemeinen Wehrpflicht? Sieben Jahre später beherrschte der Kalte Krieg die Politik. Die Wiederbewaffnung war in vollem Gange und der Verfassungsgrundsatz geriet zur Farce. Junge Männer, die den Kriegsdienst mit der Waffe verweigern wollten, mussten sich einer Gewissensprüfung vor einer vom Verteidigungsministerium bestimmten Prüfungskommission unterziehen, als könnten sich Prüfer und ehrenamtliche Beisitzer binnen einer Stunde nicht selten hochnotpeinlicher Befragung ein Urteil über die Gewissensnöte ihres Gegenübers erlauben. 1972 gab es in der BRD knapp 30.000 Kriegsdienstverweigerer. Gut 11.000 wurden nach der ersten Anhörung anerkannt. Die Abgelehnten mussten eine langwierige Prozedur über sich ergehen lassen, die bei Weitem nicht bei allen zum Erfolg führte. Wer trotz Scheiterns seines Antrags den Dienst mit der Waffe ablehnte, wurde strafrechtlich verfolgt. Viele Verweigerer verloren in dieser Zeit den Glauben an Recht und Gerechtigkeit. Sie wurden zudem als Drückeberger, Verräter und „Weicheier“ denunziert, obwohl der soziale Ersatzdienst oft weit anstrengender war als der Militärdienst. Einige junge Menschen zerbrachen an diesem unerbittlichen System von privater und öffentlicher Diskriminierung.
Keine andere dem Rezensenten bekannte Graphic Novel hat dieses diskriminierende Milieu Anfang der 1970er Jahre so präzise, so lebensnah und einfühlsam in Worte und Bilder gefasst, wie Hannah Brinkmann. In ihrem über 230-seitigen Werk erzählt sie die Geschichte ihres Onkels Hermann, der sich 1973 das Leben nahm. Der überzeugte Pazifist sah nach der ersten Ablehnung als Kriegsdienstverweigerer und der Leugnung seiner damit verbundenen Depression durch offizielle Stellen keinen anderen Ausweg. Die Chronistin der Ereignisse erfuhr erst als junge Erwachsene von ihrer Familie die wahren Hintergründe der Tragödie. Im Nachwort schreibt sie: „Hermanns Geschichte ist zu meiner eigenen geworden. Nur indem ich sie erzählte, konnte ich sie loslassen.“
Hannah Brinkmann animiert die Leser mit einer fesselnden Dramaturgie von Erzählung, Ligne Claire-Illustration und surrealen Bildsequenzen zu einer Zeitreise in das Milieu der 1960er und 1970er Jahre in der Bundesrepublik Deutschland. Die Künstlerin zeichnet mit vielen Perspektivwechseln in schmerzlich klaren Bildern die Welt, in der Hermann aufwuchs: Eine wohlhabende protestantische Familie in einer Kleinstadt im Norden Deutschlands. Fünf Geschwister. Vater Zahnarzt und passionierter Jäger. Das Haus voller Jagdtrophäen, die bereits dem kleinen Hermann Angst machen. Die Mutter hält mit treusorgendem, die Realität gerne verdrängenden Wesen Haushalt und Familie zusammen. Glaubensrituale spielen eine große Rolle, wobei sich die meisten Geschwister mehr und mehr gegen die patriarchalische Familienwelt aufzulehnen beginnen.
In dieser Atmosphäre entwickelt sich Hermann zum Pazifisten. Hannah Brinkmann kontrastiert diese geordnete, nicht selten steril-saubere Welt mit surrealen Bildern, in denen sich die Fantasien und Ängste des jungen Mannes widerspiegeln. Und sie setzt diese beängstigenden Fantasmagorien wiederum zu dokurealistischen Szenarien der Zeitgeschichte in Beziehung, um schließlich in einer Art Familienfotoalbum die Glücksmomente in Hermanns kurzem Leben noch einmal Revue passieren zu lassen.
Ein Trost bleibt am Ende: Der Freitod Hermann Brinkmanns brachte eine politische Debatte über den Sinn der Gewissensprüfung ins Rollen. 1977 wurde sie abgeschafft.

Von Siggi Seuß
Siggi Seuß, freier Journalist, Hörfunkautor und Übersetzer, schreibt seit vielen Jahren Kinder- und Jugendbuchkritiken.
Inhaltsangabe des Verlags
Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden.“ (Artikel 4 Absatz 3 des Deutschen Grundgesetzes)
Keine 10 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg begriff sich die Bundesrepublik Deutschland wieder als militärische Kraft. Die 1956 neu gegründete Bundeswehr verpflichtete Generationen junger Männer zum Dienst an der Waffe. Das Grundgesetz sah vor, dass man aufgrund von Gewissensnöten den Wehrdienst verweigern konnte, aber noch zu Zeiten von Willy Brandts Kanzlerschaft galt die Kriegsdienstverweigerung als systemzersetzend.
Unter großem Druck und vielen Demütigungen musste die Gewissensnot bewiesen werden. Vor Gutachtern, denen die Bundeswehr mehr galt, als das Wohl der Rekruten. Einer dieser jungen Männer war Hermann Brinkmann, ein überzeugter Pazifist, der 1973 eingezogen wurde. Vergeblich wehrte er sich gegen seinen Einberufungsbefehl. Während der Grundausbildung nahm er sich das Leben …
Hannah Brinkmann arbeitet in ihrem für den Leibinger-Preis nominierten Debüt „Gegen mein Gewissen“ das Schicksal ihres Onkels auf, das in den 1970ern bundesweit Schlagzeilen machte und eine Debatte über die Rechtmäßigkeit der Gewissensprüfung auslöste. Unaufgeregt, einfühlsam und brillant recherchiert, erzählt die Hamburger Comickünstlerin vom Aufbegehren gegen Autoritäten und dem Kampf für das Richtige.
(Text: avant Verlag)