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Buchcover Theodor W. Adorno. Ein letztes Genie

Detlev Claussen Theodor W. Adorno. Ein letztes Genie

Buchbesprechung

Im hundertsten Geburtsjahr Theodor W. Adornos erschienen verschiedene Biographien sowie eine kaum überschaubare Menge an Artikeln in deutschsprachigen Zeitungen und Zeitschriften. Die drei wichtigsten Bücher über Adorno sind das hier besprochene von Detlev Claussen, das rund tausend Seiten umfassende Werk von Stefan Müller-Doohm sowie die "politische Biographie" von Lorenz Jäger. Sie werden in kaum einem der Artikel jeweils für sich besprochen, sondern miteinander verglichen, gegeneinander abgewogen, zur schärferen Profilierung voneinander abgegrenzt. Claussen ist wie Müller-Doohm ehemaliger Student Adornos, der mit seinem Verzicht auf ein reines Erzählen der biographischen Ereignisse die Möglichkeiten eines anderen Umgangs mit Lebensgeschichte(n) eröffnet und dem "Denken in Konstellationen" den Vorzug gibt.

Besonders diese methodische Besonderheit der essayistischen Beschäftigung mit zentralen thematischen Komplexen ermöglicht auch dem nicht-geübten Leser einen Zugang zu Adornos Denken. Daraus ergeben sich mitunter Redundanzen, die beim Lesen in einem Stück zwar unnötig erscheinen mögen, es aber problemlos ermöglichen, jedes einzelne Kapitel für sich zu lesen. Innerhalb der Kapitel, deren zentrale Themen sich einer chronologischen Logik folgend aus Adornos Lebens(ver)lauf ergeben, bewegt Claussen sich jedoch wieder frei von allen zeitlichen Zwängen im Raum der Zusammenhänge. Er greift verschiedenste Fäden auf, die doch immer wieder zu einem anderen, neuen Aspekt in Adornos Leben und Denken führen. Claussen selbst bezeichnet dies als "Komposition biografischer Fragmente", aus denen sich nach und nach ein umfassendes Bild des Musikers, Soziologen und Philosophen Adorno in seinem sozialen und intellektuellen Umfeld zusammensetzt.

Das Buch gliedert sich in sieben Kapitel und einen Abschnitt, der unkommentiert ein Gedicht von Brecht ("An die Nachgeborenen"), einen Originaltext Adornos aus den Minima Moralia ("Weit vom Schuss") sowie Exkurse über Hanns Eisler und Fritz Lang enthält.
Nachdem Claussen im "Statt einer Ouvertüre: Keine Nachkommen" bezeichneten Einleitungskapitel das augenfällige Problem einer Biographie über Theodor W. Adorno, den vehementen Kritiker jeden "Biographismus" erörtert hat, beginnt er im ersten Kapitel ("Schöne Aussicht: Frankfurter Kindheit um 1910") mit der Darstellung von Adornos Kindheit und Jugend in Frankfurt.

Die Rückschau auf "das lange bürgerliche Jahrhundert", das sich von Goethe über Thomas Mann bis zur Katastrophe des ersten Weltkriegs erstreckt und so auch Adornos Kinderjahre noch erfasst, dient als Einstieg. Auch die frühen Erfahrungen späterer Freunde und Weggefährten wie Benjamin, Kracauer oder Horkheimer werden in ihren Unterschieden und Parallelen zu Adornos Herkunft betrachtet. Das Leben deutscher Juden zwischen Assimilierung und bürgerlichen Aufstiegsmöglichkeiten bildet den Hintergrund, vor dem Claussen die künstlerisch-unkonventionelle Umgebung im Hause Wiesengrund-Adorno und den Einfluss seiner "beiden Mütter" Maria Calvelli Adorno, einer Opernsängerin, und ihrer Schwester Agathe auf den jungen "Teddie" beschreibt.

Das zweite Kapitel, das "Von Teddie Wiesengrund zu Dr. Wiesengrund-Adorno" führt, beschreibt die Studienjahre in Frankfurt, den Wechsel nach Wien und schließlich das zögerliche Verlassen Deutschlands nach dem Ende der Weimarer Demokratie. Hier finden sich die ersten ausführlichen Passagen zu den politischen Biographien der Weggefährten und auch zur Entstehungsgeschichte des Instituts für Sozialforschung.

"Der Nichtidentische", das dritte Kapitel, befasst sich vor allem mit dem Leben im Exil. Nicht-Identisch sein, die Distanz zwischen dem Individuum und der es umgebenden Welt, das Anders-Sein ist Adorno schon durch seine Herkunft eigen, und wird durch das zeitweise auch materiell schwierige Leben in England und den USA noch verstärkt. Ausführlicher Einstieg - und hier wird das Primat des Inhalts vor der Chronologie besonders deutlich - ist Adornos Unterstützung von Thomas Mann bei dessen Arbeit am Doktor Faustus. Thomas Mann in seiner Eigenschaft als (letzter) Repräsentant des "langen bürgerlichen Jahrhunderts" dient als Brücke zu den neuen Entwicklungen hin zum Begriff der "Kulturindustrie" und damit zur Dialektik der Aufklärung. Schließlich entstehen, unter dem Einfluß der Nachrichten aus Auschwitz, die Minima Moralia.

Nach einem Kapitel mit dem Titel "Übergänge", einem Einschub mit Texten von Brecht, Adorno sowie zwei Essays über Hanns Eisler und Fritz Lang wendet sich Claussen Adornos späteren Lebensabschnitten zu. Das Kapitel "Frankfurt Transfer" erörtert die "amerikanische Erfahrung", wie Adorno sie unter anderem in den 1968 veröffentlichten Scientific Experiences of a European Scholar in America beschreibt und analysiert. Das Zusammenspiel von theoretischen Überlegungen und empirischer Datenerhebung in den Sozialwissenschaften charakterisiert Adornos Arbeit sowohl im "Princeton Radio Research Project" als auch im Institut für Sozialforschung.

Der Rolle der Musik, die Adorno zeitlebens "Momente der Extraterritorialität" ermöglicht und gleichzeitig eine "Verdopplung des Ich" hervorzubringen im Stande ist, gibt Claussen viel Raum im Abschnitt "Der Identische". Der enge Zusammenhang zwischen Glück und Angst wird formuliert als "das gleiche (...) Aufgeschlossensein für Erfahrung (...)". Der Begriff vom "Glück" ist auch Gegenstand der Diskussion, die 1956 zwischen Horkheimer und Adorno stattfindet und auf die sich Claussen in diesem Kapitel mehrfach bezieht. In der Wiederaufnahme zahlreicher Themen, die bereits 1939 im amerikanischen Exil erörtert wurden, spiegelt Claussen die immer wieder entscheidenden Auseinandersetzungen zur Rolle der Theorie und ihrer praktischen Umsetzung, zum Identitätsbegriff in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, zu den Möglichkeiten gesellschaftlicher Veränderung.

Im letzten Abschnitt schließlich, überschrieben "Palimpsest des Lebens", geht Claussen noch einmal Adornos Verhältnis zu Freunden aus früheren Jahren nach. Die detaillierte Beschreibung der von "ups and downs" geprägten Beziehung zu Ernst Bloch gibt Claussen Gelegenheit, auf die unterschiedlichsten Auseinandersetzungen einzugehen: Da sind Blochs apologetische Bemerkungen über die Moskauer Prozesse ebenso Thema wie die heftige und emotionale Diskussion von Werken Walter Benjamins. Auch Bertold Brecht und Hanns Eisler, die Adorno als Künstler achtete, in ihrer Haltung dem "Parteikommunismus" gegenüber jedoch höchst skeptisch betrachtete, werden Gegenstand der Reflexion. Claussen beherrscht es ausgezeichnet, das Zusammenspiel theoretischer Überlegungen und konkreter Erlebnisse verständlich zu machen, indem er, wie schon früher erwähnt, Adornos Texte durch die Einbettung in den biographischen Bericht erneut "zum Sprechen bringt".

Der letzte Themenkomplex schließlich befasst sich mit dem vieldiskutierten und spannungsgeladenen Verhältnis Adornos zur Studentenbewegung der 68er, auf deren "antiintellektuellen Selbsthass" ihn nach Claussens Einschätzung bereits der "gespielte Vulgärmaterialismus" Bertolt Brechts vorbereitet hatte. Dass die Studenten 1969 nach immer extremeren Manifestationen ihrer Ablehnungshaltung suchten, entsprang in Adornos Augen nur "dem Zwang ihrer eigenen Publizität" und war für ihn daher nicht erstaunlich.

Dieses Buch ist eine Studie des intellektuellen Milieus um Adorno, eines Milieus, das für das Denken des 20. Jahrhunderts unschätzbar wertvolle Impulse und Beiträge geliefert hat und das es auch im 21. Jahrhundert weiter zu entdecken gilt.
Buchcover Theodor W. Adorno. Ein letztes Genie

Von Heike Friesel