Ulla Lenze Die endlose Stadt
- Frankfurter Verlagsanstalt
- Frankfurt am Main 2015
- ISBN 978-3-627-00210-7
- 317 Seiten
- Verlagskontakt
Ulla Lenze
Die endlose Stadt
Das Brodeln der entgrenzten Welt. Ulla Lenzes Roman über Schönheit und Schrecken des globalen Kulturaustauschs
Auf Einladung der Kunststiftung NRW und des Goethe-Instituts war Ulla Lenze in Mumbai, vom Kölner Kulturamt wurde sie nach Istanbul entsandt. Und sie hat eine bezwingende Lösung gefunden, um diese beiden Megacities, zwischen denen Welten liegen, literarisch miteinander zu verschmelzen. Auf zwei Frauenfiguren hat sie ihre Geschichte verteilt, in der zwei ebenso überwältigende wie verstörende Stadt-Erlebnisse einander auf vielfältige Weise spiegeln und durchdringen.
Holle Schulz ist bildende Künstlerin, sie fotografiert Städte, genauer: Architektur-Ensembles ohne Menschen, soweit das möglich ist. Als Stipendiatin kommt sie nach Istanbul und verliebt sich nicht nur in die Metropole auf der Grenze zwischen Orient und Okzident, sondern auch in den Dönerbuden-Besitzer Celal, oder jedenfalls in seinen bildschönen Körper und seine unbefangene Leidenschaft. Gleichzeitig fühlt sie sich zu dem reichen deutschen Bauunternehmer Christoph Wanka hingezogen, der sich von ihren Arbeiten faszinieren lässt: Mit ihm verbindet sie so etwas wie ein intellektueller Gleichklang wider Willen, denn äußerlich verkörpert er das, was sie hasst – die elegante Skrupellosigkeit der „neuen Kolonisatoren“ in einer kapitalistisch entgrenzten Welt. Über das Stiftungsbudget seiner Firma kauft er ihr Bilder ab und finanziert ihr einen Aufenthalt in Mumbai, den sie überstürzt abbricht, als sie sich von ihrem Gönner bedrängt fühlt.
Ihre Wohnung übernimmt die deutsche Journalistin Theresa, Reisereporterin mit sozialkritischem Engagement, robuster als die hypersensible Holle, aber mit ähnlichen Antennen für die krassen Widersprüche, die das Leben in explodierenden Stadtgebilden wie Istanbul und Mumbai prägen, und für die prinzipielle Fragwürdigkeit aller westlichen Kultur- und Wirtschaftsaktivitäten in einem solchen Umfeld.
In raffiniertem Wechselspiel schneidet Ulla Lenze die Wahrnehmungen und Reflexionen der beiden Frauen gegeneinander, setzt jede von ihnen landestypischen Abenteuern aus und konfrontiert die andrängende Realität ihres urbanen Alltags mit der zynischen Attitüde der Gentrifizierer und Profiteure, repräsentiert durch Christoph Wanka und sein allgegenwärtiges Unternehmen.
Neben den essayistischen Betrachtungen, in denen die Perspektive junger, kosmopolitisch sozialisierter Frauen auf Länder des nahen und fernen Ostens klare Konturen gewinnt, beeindrucken vor allem die sinnlich-plastischen, atmosphärisch dichten Schilderungen von Straßenszenen, Wohnmilieus, Vergangenheitsspuren und Gegenwartsblessuren in den beiden brodelnden Riesenstädten. Die Beziehungsgeschichten verleihen dem in raschem Tempo und schnörkelloser Sprache erzählten Roman ein zusätzliches Spannungselement, ohne seine kunstreich konstruierte Balance zu stören.
► Auszug aus Die endlose Stadt in Al-Kaheera

Von Kristina Maidt-Zinke
Kristina Maidt-Zinke ist Literatur- und Musikkritikerin der Süddeutschen Zeitung und rezensiert für Die Zeit.
Inhaltsangabe des Verlags
Holle ist Künstlerin, sie fotografiert Städte. Ein Stipendium führt sie nach Istanbul, eine schmerzhaft schöne Stadt, wo sie eine Affäre mit dem Türken Celal beginnt. Und sie begegnet Christoph Wanka. Der reiche Geschäftsmann repräsentiert mit seiner globalen Firmenstrategie alles, was Holle ablehnt, und doch kann sie sich nicht von ihm lösen, schwankt ständig zwischen Anziehung und Abstoßung. Als Holle schließlich einwilligt, dass Wanka ihr eine Reise nach Mumbai finanziert, beginnt ein Kräftemessen, das sie zwingt, ihren eigenen Lebensentwurf zu hinterfragen. Hals über Kopf verlässt sie Mumbai.
In Holles verlassene Wohnung zieht Theresa. Die deutsche Journalistin kennt die alles verschlingende Metropole, in der das Überleben für viele Menschen nur am Zufall hängt. Und auch sie trifft auf Christoph Wanka. Während Theresa in Mumbai nach und nach in eine Stellvertreterrolle gleitet, die weiter reicht, als es in ihrer Absicht liegen könnte, möchte Holle im labyrinthischen Körper Istanbuls am liebsten verloren gehen und entdecken, wie sich all das neu zusammensetzt, was sie ihr Leben nennt. Als die Demonstrationen im Gezi-Park die Strukturen der Stadt selbst zum Bröckeln bringen, scheint die Gelegenheit günstig ...
Kunstvoll verknüpft Ulla Lenze vier Schicksale in einer urbanen Welt, in der Kunst, Liebe, Leben ihre Unschuld verloren haben und der Kampf um sie dennoch täglich aufgenommen wird. Die endlose Stadt ist ein Roman voller Spiegelungen und geheimer Verflechtungen. Eine schwebend leichte Konstruktion, in der Zeiten, Orte und Identitäten ineinander tauchen, ein vielschichtiges Kunstwerk von großer Schönheit
(Text: Frankfurter Verlagsanstalt)