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Kinderliteratur in Zeiten des Krieges

Please no more war
© Pixabay, SutoriMedia

von Antje Ehmann

Krieg, Flucht und Vertreibung – immer sind es auch die Kinder, die betroffen sind und mit ihren Familien schwerwiegende Veränderungen verkraften müssen. Geschichten können Trost spenden, Kindersachbücher altersgemäße Fakten und Erklärungen bieten. So ist es nicht verwunderlich, dass zahlreiche Neuerscheinungen sich mit genau diesem Thema künstlerisch auseinandersetzen, um die Wirklichkeit auf diese Weise im Idealfall besser verstehbar zu machen. Im Folgenden sollen nun fünf einschlägige, teils mit wichtigen Literaturpreisen ausgezeichnete Titel vorgestellt werden, die sowohl von der Herangehensweise als auch von der Aufmachung her besonders überzeugen.


Bilderbuch

Ein poetischer Friedensberichterstatter, das wollte Willi Weitzel sein. Nachdem er nach Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine fassungslos die ersten Fernsehbilder gesehen hatte, begann er zu überlegen, welchen Beitrag er mit seinen Talenten leisten könnte. So kam ihm die Idee zu dem von Verena Wugeditsch sensibel und ausdrucksstark illustrierten Bilderbuch „Der Frieden ist ausgebrochen“. Schon der Titel ist genial, greift er doch die gängige Redewendung auf und verkehrt sie ins Gegenteil. Sogleich beginnt das Nachdenken über das Unbegreifliche. Die Tochter stellt dem Vater in einem fiktiven Dialog viele Fragen rund um Krieg und Frieden. Wie mit einer Taschenlampe im Dunklen leuchtet das Gespräch die verschiedenen Aspekte aus. „Frieden bedeutet für mich die Szene ganz am Ende des Bilderbuches, ein tiefes Geborgenheitsgefühl. Aber Frieden ist von vielen Faktoren abhängig: wenn es nicht ungerecht, sondern gerecht zugeht und wenn Freiheit mit Verantwortung, Fürsorge und Liebe gelebt wird, dann bestehen gute Möglichkeiten, dass der Frieden ausbricht,“ so Willi Weitzel. Im Januar 2023 hat die Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendliteratur das Bilderbuch zu Recht als ‚Buch des Monats‘ ausgezeichnet. Denn auch die Illustratorin Verena Wugeditsch versteht sich darauf, Beängstigendes wie brennende Häuser oder Soldaten behutsam darzustellen.
 

Willi Weitzel, Alea Horst © Bohem, © Klett


Sachbücher für Kinder und Jugendliche

Das lässt sich auf Fotografien nicht immer umsetzen, Alea Horst gelingt es aber. Sie entscheidet sich für eindrückliche Porträts von Kindern, die im Flüchtlingslager Kara Pepe auf Lesbos, der drittgrößten Insel Griechenlands, leben müssen. „Manchmal male ich ein Haus für uns – Europas vergessene Kinder“ ermöglicht es den Betrachtern, einen Einblick in den Alltag dieser Kinder zu bekommen. Auf der linken Buchseite sind die Gedanken, Wünsche und Alpträume der Kinder versammelt, die Horst in zahlreichen Gesprächen gehört hat. Auf der rechten Seite sind die farbigen Fotografien zu sehen, sie sind auf die Kinder konzentriert, im Hintergrund erscheinen die Landschaft, notdürftig eingerichtete Zelte oder Container. Mehrdad Zaeri hat kleine schwarz-gelbe Vignetten gezeichnet und die Häuser mit dem gefüllt, was den Kindern am Herzen liegt. Asra und Tabasom lieben ihre Barbiepuppen. Tajala malt gerne und Alireza liebt das Fußballspielen. „Als fünfzehnjähriges Flüchtlingskind hatte ich selbst den Wunsch, mit meinen Eltern und Geschwistern wieder ein Zuhause zu finden. Wer diese tiefe Sehnsucht schon einmal hatte, vergisst sie nie wieder“, so Zaeri. Tatsächlich hallen auch die hier gezeigten Schicksale lange nach und es wird sehr deutlich, dass Kinder nicht in einer solchen Umgebung aufwachsen sollten.

Aber mehr als die Hälfte der Flüchtlinge weltweit sind Kinder. So bieten Christoph Drösser und Nora Coenenberg in „Wir mussten flüchten – Was es bedeutet, die Heimat zu verlassen und irgendwo neu anzufangen“ für Kinder im Grundschulalter einen wichtigen, umfassenden und gut verständlichen Einstieg in das Thema. In kurzen Porträts stellen sie zehn Kinder vor, die aus der Ukraine, Afghanistan und Syrien flüchten mussten. „Wir haben das Thema Migration schon im Herbst 2021 ins Auge gefasst. Aber dann im Sommer 2022 war die Gestaltung durch die Aktualität besonders bewegend. Mir wurde durch die Arbeit klar, wie komplex und tiefgreifend das Thema Flucht in der Menschheitsgeschichte verankert ist, und wie wichtig es ist, dass wir Menschen uns untereinander in solchen Situationen helfen,“ so Coenenberg. Das hervorragend eingespielte und 2021 in der Sparte Sachbuch für ihr Buch „100 Kinder" mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnete Team kann hier erneut überzeugen. Nach der umfangreichen Lektüre weiß man mehr – nicht zuletzt dank klugem Layout, Infografik und konkreten Ideen im Kapitel „Wie kann ich helfen?“.
 

Drösser, Drvenkar, Boie © Gabriel, © Hanser, © Oetinger


Kinderroman und Märchen 

Zu helfen ist gewissermaßen auch der Impuls des Jungen Kai, dessen geliebter, inzwischen dementer Großvater kurz vor dem Umzug ins Altersheim steht. Autor Zoran Drvenkar erläutert dazu: „Mir eröffnete sich langsam die Welt, in der der Enkel und sein Großvater steckten – also, dass der eine dem anderen helfen wollte und dass die beiden zusammengehörten. Schließlich kam ich zu dem Punkt, der die Geschichte zu formen begann: Was wir nicht alles tun würden, um einander zu retten – vor dem Vergessen, dem Verlieren und den vielen Lügen, die das Leben auch ausmacht.“ In „Kai zieht in den Krieg und kommt mit Opa zurück“ thematisiert der versierte Autor die Universalität des Krieges. Enkel und Großvater begeben sich zusammen auf eine imaginäre Zeitreise, die für beide tiefgreifende Erfahrungen und Erkenntnisse bereithält. Der Elfjährige bekommt einen ganz neuen Einblick in Opas Kriegerlebnisse: Hat dieser doch andere Menschen getötet? Wie konnte er mit all den schmerzhaften Erinnerungen weiterleben und war Opa wirklich ein Held mit seinen gerade mal 14 Jahren? Nichts ergibt mehr Sinn im Krieg, und Drvenkar lässt seine jugendlichen Leser*innen an dieser Erkenntnis teilhaben – sprachlich virtuos, mit klugen Gedanken und Bildern, die lange nachklingen.

Die beiden Kinder in Kirsten Boies neuem Märchen „Der Hoffnungsvogel“ haben eine Melodie, die sie begleitet. Auf der gleichnamigen CD, großartig gelesen von Jona Mues, ist sie zu hören. Waffen haben sie nicht, obwohl es auch eine abenteuerliche Reise ist, auf die Jabu und Alva sich begeben. Denn im Glücklichen Land ist nichts mehr wie zuvor. Die Menschen sind unfreundlich und griesgrämig. Hoffnungslosigkeit macht sich breit. „Auch jetzt geht es uns durch den Ukrainekrieg wieder so. Die Schwierigkeit, zuversichtlich zu sein, und die fehlende Hoffnung, dass es bald besser werden könnte, belastet viele,“ so Kirsten Boie. Vieles an Menschenkenntnis blitzt da zwischen den Zeilen hervor, und die erfahrene Hamburger Autorin nimmt die Kinder sprachlich immer wieder durch direkte Adressierung freundlich an die Hand. Katrin Engelking hat dazu Szenen in intensiven Farben und dichter Atmosphäre geschaffen: die Heldenhafte Helene gefährlich und mitten auf dem Meer in Seenot, die Räuberbande samt Galionsfigur auf dem Schiff oder der prächtige Hoffnungsvogel vor Vollmondkulisse. „Frieden ist für mich, wenn Menschen mit der Einstellung ‚leben und leben lassen' zusammenleben, sie trotzdem bereit sind, sich für die Gemeinschaft zu engagieren und Diversität als Stärke und nicht als Bedrohung für ihr eigenes Leben empfinden,“ erläutert Engelking. Stoff zum Nachdenken und gemeinsamen Sprechen über dieses nicht ganz einfache Thema bieten alle fünf Bücher in künstlerisch herausragender Weise.


Antje Ehmann arbeitet als freie Journalistin, Jurorin und Referentin im Bereich Kinder- und Jugendliteratur.


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