Anna Katharina Hahn Das Kleid meiner Mutter
- Suhrkamp Verlag
- Berlin 2016
- ISBN 978-3-518-42516-9
- 312 Seiten
- Verlagskontakt
Anna Katharina Hahn
Das Kleid meiner Mutter
Ein Gefäß von Wünschen und Ängsten
Diese Szene, so hat Anna Katharina Hahn es in einem Interview erzählt, habe sie tatsächlich geträumt. Eine kleine Novelle habe sie daraus machen wollen. Ganz offensichtlich hat der Stoff sich ausgeweitert, hat Wucherungen angenommen in sämtliche Richtungen. Das Ergebnis liegt nun als mehr als 300 Seiten starker Roman vor uns: ein Buch der wilden Fantasien und Vorstellungen, in dem die Grenzen zwischen Vorstellung, Realität und Irrwitz immer wieder gezielt verwischt werden. Anna Katharina Hahn hat sich in ihren beiden ersten bemerkenswerten Romanen als eine Spezialistin für die weit verästelten Ängste und Neurosen der deutschen Mittelschicht erwiesen, deren Epizentrum vielleicht nicht ganz zufällig im wohlsituierten und grundbürgerlichen Stuttgart zu finden ist, wo auch die Autorin selbst lebt. Nun verlagert Hahn die Gegenwartshandlung ihres Romans nach Spanien – um letztendlich wieder im Schwabenland anzukommen.
Stück für Stück verlässt Anna Katharina Hahn den Boden des realistischen Erzählens – und sorgt gleichzeitig dafür, dass ihrem Roman die Bodenhaftung nicht abhandenkommt.
Anita informiert nicht etwa Behörden oder ihren Bruder vom Tod der Eltern. Sie zieht sich Blancas Kleid über und schlüpft auf diese Weise in die Haut und in das Leben der Mutter. Wenn sie das Kleid trägt, ist sie nicht mehr sie selbst, auch nicht für ihre Umwelt. Anita wird Blanca. Und taucht ein in ein schwer überschaubares Geflecht von Liebesbeziehungen und historischen Verwicklungen. Es bedarf einer technischen Könnerschaft und einer klaren und zugleich luziden Sprache, um all diese Erzählstränge beisammen zu halten. Anna Katharina Hahn kann das. Wo sie anfangs nur Verweise gestreut, Spuren ausgelegt hat in Richtung der Grimm’schen Märchen und einer schwarzen Schauerromantik, übernimmt dieser Motivkomplex zunehmend die Regie.
Zu tun hat das auch mit einer der zentralen Figuren des Romans: Der Schriftsteller Gert de Ruit, der im Leben beider Eltern offenbar eine nicht unwesentliche Rolle gespielt haben muss, ist eine mythische Figur. Ein Foto existiert von ihm nicht, abgesehen von jenem, auf dem er während einer Tagung der Gruppe 47 aus dem Bild huscht. Nur sein gestiefelter Fuß (!) ist noch auf dem Bild. De Ruit, Jahrgang 1930, offenbar Sohn deutscher Eltern, in Spanien lebend, ist das von Anna Katharina Hahn lustvoll zusammen gesetzte kollektive Gefäß von Wünschen und Ängsten. Die auf verschlungenen Wegen geretteten Aufzeichnungen seines biografischen Hintergrundes sind es schließlich auch, die zurück nach Deutschland führen, zurück ins Bürgertum, zurück in den Nationalsozialismus.
Das klingt, zugegeben, hanebüchen. Ist es aber nicht. Es ist konsequent und hochliterarisch. Und es lässt jederzeit die Möglichkeit offen, als ein von der spanischen Hitze befeuertes Hirngespinst der überforderten und ausgebrannten Anita gelesen zu werden. Es muss Anna Katharina Hahn einen großen Spaß gemacht haben, ein großes Feld aus literarischen Anspielungen und Referenzen anzulegen. Ludwig Tieck trifft Will Vesper trifft Roberto Bolano. Nicht alle Pfade in diesem Roman, zugegeben, führen zu einem Ziel. Aber alles in allem erzeugen sie eine Atmosphäre: Das dunkle Unbehagen, das sich im Madrid der Jetztzeit wie in der schwäbischen Vergangenheit einstellt, hat eine gemeinsame Ursache, die letztendlich auch mit Politik zu tun hat, mit moralischer Verwahrlosung. Darum ist „Das Kleid meiner Mutter" auch mehr als nur ein Spiel.

Von Christoph Schröder
Christoph Schröder, Jahrgang 1973, arbeitet als freier Autor und Kritiker unter anderem für den Deutschlandfunk, Die Zeit und die Süddeutsche Zeitung.
Inhaltsangabe des Verlags
Madrid im Sommer 2012: Krass zeigen sich in der Hauptstadt die Auswirkungen der jüngsten Wirtschaftskrise. Die junge Ana María, genannt Anita, gehört zur »verlorenen Generation«, der jede Möglichkeit einer selbstbestimmten Existenz genommen wurde. Ihr Bruder, ein promovierter Germanist, hat sich bereits nach Berlin abgesetzt, um auf dem Bau sein Geld zu verdienen. Anita ist aus Not in ihr altes Kinderzimmer zurückgezogen. Halt geben ihr neben der Familie nur ihre Freunde, die das Schicksal der Dauerarbeitslosigkeit mit ihr teilen, und die regelmäßigen Demonstrationen auf der Puerta del Sol im Herzen der überhitzten Metropole. Doch alles Schlimme lässt sich noch steigern: Eines Tages liegen Anitas Eltern tot in der gemeinsamen Wohnung. Unversehens rutscht sie in das Leben der Mutter hinein. Anita muss nur eines ihrer Kleider überstreifen, schon halten sie alle – auch Mutters geheimnisvoller deutscher Liebhaber – für Blanca. Und deren Alltag ist viel aufregender, als Anita sich hätte träumen lassen: »Es fühlte sich gut an, meine Mutter zu sein. Ich war schön, auf eine mir unbekannte Weise … Selbst in den Gesichtern mancher Frauen sah ich ein Aufleuchten.«
Unerschrocken nimmt Anna Katharina Hahn in ihrem dritten Roman die drängendsten Probleme der Gegenwart ins Visier: Das Kleid meiner Mutter ist ein phantastischer Generationen- und Liebesroman aus den Zeiten der Eurokrise und zugleich ein poetisches Welttheater zwischen Spanien, Berlin und Stuttgart. Am Ende scheinen fast alle Fäden bei einem geheimnisumwitterten Schriftsteller zusammenzulaufen, dem man nachsagt, über Leichen zu gehen. Doch vielleicht ist auch das eine Täuschung.
(Text: Suhrkamp Verlag)