Matthias Brandt Raumpatrouille
- Kiepenheuer & Witsch Verlag
- Köln 2016
- ISBN 978-3-462-04567-3
- 176 Seiten
- Verlagskontakt
Sehnsucht nach Normalität
Die Geschichte wäre nicht weiter erwähnenswert oder gar spektakulär, wenn es sich bei dem Mann, von dem die Rede ist, nicht um den seinerzeit amtierenden Kanzler der Bundesrepublik Deutschland handeln würde. Matthias heißt der Junge, Willy Brandt der Vater. Bereits im Jahr 2006 hat Lars Brandt, Matthias Brandts zehn Jahre älterer Bruder, mit „Andenken" ein wunderbares, kleines Buch mit Erinnerungssplittern an die Zeit seiner Kindheit veröffentlicht. Und wenn man nun Matthias Brandts „Raumpatrouille" liest, verstärkt sich der Eindruck einer ungeheuren Diskrepanz: Da ist zum einen der Politiker Brandt, der spätere Friedensnobelpreisträger, personalisiertes Symbol eines offenen, liberalen Landes. Und da ist, möglicherweise naturgemäß, der abwesende, seltsam entrückte, distanzierte Vater.
Es ist ein Aufwachsen unter außergewöhnlichen Umständen, das als Gegenbewegung bei dem acht- oder neunjährigen Matthias (geboren 1961) eine tiefe Sehnsucht nach Normalität hervorruft. Bereits der Titel „Raumpatrouille" ist eine Anspielung auf die Erforschung des Weltraums und die Ausdehnung von Phantasiewelten in eine neue Dimension, die mit der ersten Mondlandung einhergeht. Es steckt eine Menge nostalgisches Potential in diesem kleinen Buch. Die Accessoires und der Zeitgeist der alten Bundesrepublik werden in den Beobachtungen des Kindes quasi en passant eingefangen. Gleichzeitig aber geschieht in „Raumpatrouille" genau das, was immer geschieht, wenn die Schwierigkeit eines Erzählens aus Kinderperspektive erfolgreich bewältigt wird: Der unverdorbene, unschuldige Blick hat etwas ungeheuer Entlarvendes, Erhellendes, Enthüllendes. Er betrachtet die Rückseite der offiziellen Bilder, die sich im kollektiven Gedächtnis eines Landes festgesetzt haben.
Hochkomisch beispielsweise das Kapitel, in dem der Vater nach einem Streit mit dem Sohn und einem gewissen Herrn Wehner eine Fahrradtour unternehmen soll, um Bilder für eine offizielle Versöhnung zu liefern. Der Junge hat den Vater noch nie auf einem Fahrrad gesehen; es muss zunächst extra eines angeschafft werden. Der Ausflug endet nach wenigen Metern in einem Sturz; Brandt lässt das Fahrrad fluchend fallen und geht rauchend ins Haus; zurück bleibt ein konsternierter Herr Wehner; der Sohn macht die Fahrradtour allein. „Ich hätte besser auf ihn aufpassen müssen", sagt er sich noch. Es steckt auch viele enttäuschte Liebe in diesem Buch. Und ein intuitives Aufbegehren gegen äußere Zwänge, gegen die Polizisten und Wachleute, die sich permanent auf dem Grundstück aufhalten, gegen den peinlichen Umstand, dass alle anderen Väter einen Führerschein haben und nur der eigene Vater ständig von einem Chauffeur durch die Gegend gefahren wird.
Als der kleine Matthias einmal bei einem Schulfreund übernachtet, überwältigt ihn die Freude über seine Teilhabe an einem ganz normalen Familienabend – gemeinsames Abendessen, Fernsehschauen im Jogginganzug – bis er in der Nacht entsetzliches Heimweh bekommt. Überall in „Raumpatrouille" scheint die Ambivalenz auf: Es ist eine behütete und sichere Kindheit, von der hier erzählt wird. Und eine ziemlich leere und einsame noch dazu.

Von Christoph Schröder
Christoph Schröder, Jahrgang 1973, arbeitet als freier Autor und Kritiker unter anderem für den Deutschlandfunk, Die Zeit und die Süddeutsche Zeitung.
Inhaltsangabe des Verlags
Streifzüge im Astronautenkostüm
Dieses Buch ist eine herrliche Überraschung: Matthias Brandt zeigt mit seinem literarischen Debüt, dass er nicht nur ein herausragender Schauspieler, sondern auch ein bemerkenswerter Autor ist.
Die Geschichten in Matthias Brandts erstem Buch sind literarische Reisen in einen Kosmos, den jeder kennt, der aber hier mit einem ganz besonderen Blick untersucht wird: der Kosmos der eigenen Kindheit. In diesem Fall einer Kindheit in den Siebzigerjahren des letzten Jahrhunderts in einer kleinen Stadt am Rhein, die damals Bundeshauptstadt war. Einer Kindheit, die bevölkert ist von einem manchmal bissigen Hund namens Gabor, von Herrn Vianden, dem mysteriösen Postboten, verschreckten Nonnen, kriegsbeschädigten Religionslehrern, einem netten Herrn Lübke von nebenan, bei dem es Kakao gibt und dem langsam die Worte ausgehen. Es gibt einen kauzigen Arbeitskollegen des Vaters, Herrn Wehner, einen Hausmeister und sogar einen Chauffeur, da der Vater gerade Bundeskanzler ist. Erzählt wird von komplizierten Fahrradausflügen, schwer bewachten Jahrmarktsbesuchen, monströsen Fußballniederlagen, skurrilen Arztbesuchen und von explodierenden und ebenso schnell wieder verlöschenden Leidenschaften wie z.B. dem Briefmarkensammeln. Nicht zuletzt lesen wir von gleichermaßen geheimnisumwobenen wie geliebten Eltern und einer Kindheit, zu der neben dem Abenteuer und der Hochstapelei auch Phantasie, Gefahr und Einsamkeit gehören. Ein Buch, das man nicht vergessen wird.
(Text: Kiepenheuer & Witsch Verlag)